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Ausstellungen

TATSUMI ORIMOTO / HERBERT PREYER-BAYER

6. April 2000 – 29. April 2000

Orimoto Tatsumi (JP), Herbert Preyer-Bayer (AT)

Verständigung durch das Reifenrohr. Das Abenteuer der Kommunikation zwischen Alten und Jungen in Greater Tokyo, fotografiert von Tatsumi Orimoto und gesehen von Johannes Lothar Schröder: Monströs sehen sie aus die drei alten Damen, die sich mit Fahrzeugreifen auf den Schultern vor einer Fotokamera zum Tee versammelt haben, auf der Couch im Wohnzimmer launchen oder sich im Vorgarten treffen. Die Mutter des Künstlers mit ihren Freundinnen aus der Nachbarschaft in Kawasaki-City, einer Stadt, die das Konglomerat Tokio verschlungen hat.

Wäre die Mutter nicht achtzig, der Sohn fünfzig und dazu noch ein Künstler, dessen Wurzeln in die New Yorker Fluxus-Szene der 1960er- und 1970er-Jahre zurückreichen, würde man denken, daß Tatsumi Orimoto ein ungezogener Junge ist, der an den drei Frauen einen schlechten Scherz verübt. Warum belastet er sie ausgerechnet mit den alten abgefahrenen Reifen von Motorrädern und anderen Fahrzeugen?

Schaut man die Fotos genauer an, sieht man, daß die drei Frauen das Gewicht, das an ihren Nacken hängt, gelassen tragen. Sie machen nicht einmal eine gute Miene zum bösen Spiel, nein, sie machen einen guten Eindruck, stoisch zwar, aber alle Beteiligten scheinen sich zu verstehen. Das soziale Leben ist offensichtlich intakt: Die drei alten Damen trinken ihren Tee gemeinsam, sie leben in ihren eigenen vier Wände, haben ihre sozialen Kontakte und benötigen nicht gerade die Dienste der zahlreichen Servicefirmen, die ihre Angestellten durch die Städte rollen lassen, um die Alten mit dem Nötigsten zu versorgen: Essen auf Rädern, ambulante Pflege etc.

Dokumentarische Interventionen im Alltag: Kommunikations-Kunst nennt Tatsumi Orimoto seine Stücke, in die er Menschen einbezieht, denen er auf seinen Reisen z.B. als Brot-Mann begegnet oder denen er Armreifen verpaßt und Ohrclips anhängt. Er selbst oder seine Assistenten fotografieren die Interventionen, und diese Fotos, die in die Tausende gehen, zeigen die Menschen, die in ihren Verrichtungen innehalten und in voller Konzentration ihre beste Seite hervorkehren. Sie erstrahlen geradezu dadurch, daß sie Orimoto mit merkwürdigen Artefakten oder angebrachten Dingen bestückt, in Ernst und Würde. Bei allem Ernst haben diese Aktionen auch mit Humor zu tun, denn wir können nur über die Dinge und Situationen schmunzeln oder lachen, die uns nicht mehr erschreckend fremd, aber dennoch nicht ganz vertraut sind. So wirken wir, wenn plötzlich neue oder entfernte Gegenstände in unsere Nähe kommen, entweder selbst unsicher und deplaziert, oder die Dinge wirken lächerlich. Wir nennen diese Lage ja auch „verrückt“ oder empfinden, daß wir „aus dem Häuschen“ sind.

Wie steht es also mit diesen surrealistischen Bildern abgefahrener schwarzer Fahrzeugreifen an den Hälsen der alten Damen? Was haben sie dort zu suchen? Die gebrauchten Reifen sind von den Felgen abgezogen und disfunktional geworden. Dieses Bild allein würde schon genügen, um eine Metapher für das Alter in unserer Zeit abzugeben, wo denen, die das Tempo der Gesellschaft bestimmen möchten, die Alten zur Last werden, die man sofern sie nicht zu vermindern ist, finanziell verteilt, politisch regelt und technisch organisiert. Die ambulante Versorgung der Alten wird zum verkehrstechnischen Bestandteil der Dienstleistungsgesellschaften, die auf diese Weise auch diejenigen, die nicht fahren, in die mobile urbane Infrastruktur und die laufenden Geschäfte einbindet.

Die Provokation des Beharrungsvermögens: Die Slapstick-Filme haben in den 1920er-Jahren den Übergang in die Automatisierung der industriellen Massenproduktion begleitet und ihre Komik aus den überflüssig gewordenen Verhaltensweisen und Bewegungen der Menschen gewonnen, die aus den alten familiären und handwerklichen Zusammenhängen in die städtischen Zentren der Massenproduktion kamen. Die durch moderne Verkehrsmittel und durch Maschinen beschleunigten Abläufe ließen sie mit ihren alten Gewohnheiten so deplaziert erscheinen, daß es belustigend wirkte. Heute, wo uns die Beschleunigung des Alltags schon einverleibt ist, können uns Dauerhaftigkeit, Statik und Immobilität bisweilen befremden, wenn die Beschleunigungsroutine durch traditionelle Verhaltensweisen, unbenutzte Fahrzeuge, hinkende oder dickfellige Mitmenschen gestört wird. Orimotos Fotografien zeigen Bilder von Menschen an der Peripherie der Beschleunigung, im Übergang in die Dienstleistungsgesellschaft, deren Räder sich in das traditionelle, geruhsame und kontemplative Leben hineinfräsen. Das Leben der alten Menschen tritt auf der Stelle, ihr Alltag dreht sich im Kreis. Auch darauf, auf die Wiederholbarkeit und die Rituale eines festgelegten Alltags spielt der Titel Tire Tube Communication (auf Deutsch: „Reifen-Schlauch-Kommunikation”) an. In diesem Kontext wird die Kreisförmigkeit des Reifens wie der Kreis selbst zu einem Symbol der Vollkommenheit und der Vollendung des in sich geschlossenen Lebenszyklus‘, der sich am Ende seinem Beginn zuneigt und damit die Gelassenheit und Würde des Alters mit der Kindheit, dem versonnenen Spiel, der Absichtslosigkeit und der Freude am Augenblick verknüpft. Selbst die grobe Intervention mit diesen schweren Motorradreifen kann die alten Damen, die sich seit eh und je treffen, nicht stören. Sie sitzen auf ihren Plätzen und bilden einen Inbegriff des Beharrungsvermögens, das eine Provokation der Rastlosigkeit darstellt. Anscheinend rollen Reifen in alle Lebensbereiche, doch zeigt es sich, daß gelegentlich die Dynamik der Geschwindigkeitsvektoren umkehrbar wird.

 

Eine Photoserie von Herbert Preyer-Bayer.
Ausführendes Organ: Schätzmeister des Dorotheums

Diese Arbeit ist zwar keine Auftragsarbeit, war aber jedesmal mit einem finanziellen Darlehen verbunden. Der Photoapparat, eines der Grundinstrumente meiner photographischen Arbeit, wurde von mir in den Jahren 1996/1997 zwölf Mal im Wiener  Dorotheum versetzt. Der jeweilige Schätzmeister des Dorotheums prüfte dabei vorschriftsmäßig die Funktion des Photoaparates, indem er den Auslöser betätigte. Dadurch wurde von ihm bei jeder Übernahme der Kamera ein Bild belichtet. Die so entstandenen Aufnahmen wurden von mir gesammelt und den Pfandscheinen zugeordnet.

Dorotheum: In Österreich den öffentlichen Fonds gleichgestellte staatliche Anstalt, die Faustpfänder zu günstigen Zinssätzen belehnt, Versteigerungen (Kunstgegenstände, besonders Möbel) durchführt und Spareinlagen entgegennimmt. Sitz: Wien, Zweigstellen in den österreichischen Bundesländern. Das Dorotheum untersteht der Aufsicht des Bundesministeriums für Inneres. Es wurde 1707 unter der Bezeichnung „Versatzamt“ gegründet und 1787 in das Gebäude des ehemaligen Dorotheerklosters in der Dorotheergasse verlegt – daher der Name. (Brockhaus, Bd. 5, S. 629)