Eröffnung: Montag, 2. März 2020, 19.00 Uhr
Einführende Worte: Petra Noll-Hammerstiel
Beiprogramm: Donnerstag, 19. März, 19.00 Uhr: Videoscreening Memory Trilogy, Maya Zack (IL)
In Kooperation mit demVienna Jewish Film Festival.
sponsored by: BKA Österreich; MA7-Kultur; Cyberlab
Dank an: Rita Jelinek und Frédéric-Gérard Kaczek – Jüdisches Filmfestival Wien; Christiane Kuhlmann, Museum der Moderne Salzburg; MUSRARA, The Naggar School of Art and Society, Jerusalem; Lisl Ponger, Wien; Carla Bobadilla, Wien; Galerie carlier | gebauer, Berlin/Madrid; Pro Av Saarikko Oy, Espoo, Finnland; Ruth Films, Jerusalem
Rituale sind ein wichtiger Bestandteil des Ausdrucks- und Kommunikationsverhaltens des Menschen und sagen viel aus über Werte, Rollenverständnis und das soziale Miteinander, in dem sie häufig eine regulierende, unterstützende Funktion einnehmen. Die komplexe Inhaltlichkeit und große Bedeutung des Rituals für den Menschen hat das kuratorische Team der FOTOGALERIE WIEN dazu inspiriert, einen Schwerpunkt mit vier Ausstellungen mit internationalen KünstlerInnen in den Jahren 2019/2020 zu konzipieren. Der Begriff „Ritual“, ursprünglich nur im liturgisch-zeremoniellen Kontext üblich, wird heute für alle gesellschaftlichen Bereiche verwendet. Das Ritual ist eine nach vorgegebenen Regeln und meist in festgelegter Reihenfolge durchgeführte Handlung mit primär identitäts- und sinnstiftendem Ziel, d.h. mit dem Wunsch nach Orientierung, Erkenntnis und gemeinschaftlichem Handeln. Es setzt sich ab von alltäglichen Gewohnheiten bzw. instrumentellen, regelmäßigen und vor allem zweckorientierten Tätigkeiten, denen aber ein „ritueller Charakter“ zugeschrieben werden kann. Das Ritual besetzt somit vor allem den geistigen und emotionalen Raum. Charakteristisch für das Ritual sind zudem Inszenierung, Prozessualität und meist hohe Symbolhaftigkeit.
Die vier Ausstellungen beschäftigen sich mit gesellschaftlichen Ritualen und den damit einhergehenden Beziehungsgeflechten; mit Ritualen, in denen sich Machtdemonstration, Unterdrückung und Ausgrenzung artikulieren, sowie mit religiösen und anderen zeremoniellen Ritualen. Im Zuge dessen werden die mit den verschiedenen Ritualen verbundenen Codes, Haltungen und Kommunikationsformen untersucht.
Die Künstler:innen der dritten Ausstellung analysieren und dekuvrieren Demonstrationen von Macht, wie sie von Autoritätspersonen inszeniert werden; diese zielen auf Beherrschung, Unterdrückung, Indoktrinierung, Kontrolle und Disziplinierung von Menschen. Hierzu gehören symbolische Formen wie Gestik, Mimik und Pose sowie in Szene gesetzte Insignien der Macht und suggestive oder aggressive verbale Order. Diese sind in allen Ländern und Gesellschaften üblich und oft ähnlich; sie sind auf Grund ihres gezielt eingesetzten und sich wiederholenden Charakters als Rituale der Macht zu lesen. Die Künstler:innen untersuchen Mechanismen von Machthabenden aus u.a. Politik, Militär, Polizei und Kirche sowie in hierarchisch orientierten Gesellschaften, wobei zum Teil eigene Erfahrungen von Repressalien einfließen. Vielfach werden Machtdemonstrationen als (sinn-)entleerte, absurde Rituale entlarvt. Angesprochen werden auch aus Machtansprüchen resultierende Rituale des Protests, der Verweigerung oder der Befreiung der Unterdrückten.
Christian Eiselts Künstlerbuch 08/15 basiert auf Tagebucheintragungen aus seiner Militärzeit Anfang der 2000er-Jahre in Österreich, Geschichten eines ganz normalen – 0815 – Soldatenalltags, kombiniert mit Fotos eines Reenactments einer Schlacht, das 2014 zum 100-jährigen Jubiläum der Kämpfe zwischen der k.u.k.- und der russischen Armee inszeniert wurde. Rituale der Machtausübung von Oberen prallen auf die Rituale von Militärdienstleistenden, deren Alltag bis ins Kleinste von den Befehlshabern vorgegeben ist. Immer und überall verlaufen diese ähnlich, wenn Menschen für kriegerische Zwecke ausgebildet werden. Der Wahnsinn des Krieges ist allgegenwärtige Bedrohung.
Bei Köken Erguns Zweikanal-Videoinstallation I, Soldier handelt es sich um den ersten Teil einer kritischen Analyse von staatlich kontrollierten Zeremonien anlässlich der Nationalfeiertage der Türkischen Republik. Diese werden begleitet von nationalistischen und militaristischen Attributen und Ritualen. I, Soldier wurde am Nationalfeiertag für Jugend und Sport gefilmt. Die jährliche Zeremonie findet in vielen Städten statt und besteht aus Vorführungen von Jugendlichen, die zeitlos sozialistisch-realistisch choreografiert sind. In I, Soldier wird ein nationalistischer Hip-Hop-Song während der Gymnastikvorführungen von Militärschülern gespielt, untermalt von einem herrischen Gedicht eines hochrangigen Soldaten über soldatische Tugenden.
Die Künstlergruppe G.R.A.M., Martin Behr und Günther Holler-Schuster, zeigt eine Auswahl von auf Zeitungspapier gedruckten Fotografien aus der Serie Der Coup der tadellosen Männer, Reenactments von Situationen mit in erster Linie politischen Machthabenden, die auf Pressebildern basieren und deren Titel realen Meldungen aus Zeitungen entstammen. In persiflierender Weise wurden diese Männer abseits der Zwänge und Manierismen protokollarischer Handlungen und Haltungen inszeniert. Posen, die gewöhnlich eingesetzt werden, um sich wichtig und mächtig zu präsentieren, werden als leere Rituale entlarvt und ad absurdum geführt.
In ihrem Performance-Video Rollenszenen beschäftigt sich Annja Krautgasser mit Manipulation und Fremdbestimmung des Individuums durch die Gesellschaft. Eine Frau in weißem Overall sitzt in einem klaustrophobischen Raum an einem Tisch und blickt frontal in die Kamera. Aus dem Off kommen provozierende Fragen, Vorwürfe, Beurteilungen und Regieanweisungen für Positionen und Handlungen, die sie bereitwillig ausführt, ebenso wie sie auf Anforderung Aussagen wiederholt. Gefühle werden ihr suggestiv eingeredet, sie wird ständig mit Ängsten und Unsicherheiten konfrontiert. Die „von oben“ vorgegebene Struktur ist als Ritual der Disziplinierung zu lesen, von dem sie sich erst am Ende befreit.
Edgar Leciejewskis Fotoinstallation A Circle Full of Ecstasy zeigt internationale Personen der politischen Elite und Würdenträger, die die rechte Hand in ähnlicher Weise heben. Die Bilder basieren auf Pressematerial, das von Leciejewski in Cyanotypien übertragen wurde. Der Bilderblock beginnt und endet jeweils mit einer Frontalansicht; die an dem Zyklus beteiligten 77 Personen drehen sich um 360 Grad. Das Ritual der Handhebung, das jeweils visuell fokussiert wird, ist immer anders zu interpretieren – als harmlos-freundliche Begrüßung, als werbender Solidaritäts-, schützender Segens- oder Friedensgestus, aber auch als manipulative Verführungspose sowie als dominante Machtdemonstration.
In Aernout Miks Zweikanal-Videoinstallation A swarm of Two brechen soziale Ordnungen und Strukturen zusammen, werden Rituale der Macht ad absurdum geführt. Zwei Paar Polizist:innen, Garanten für Sicherheit und Schutz vor (vermeintlicher) äußerer Bedrohung, schlendern nachts durch eine ausgestorbene Einkaufsstraße. Ihre Uniformen und Bewaffnung, ihre Codes und Gesten symbolisieren Autorität und Macht. Plötzlich wird ihr Kontrollgang durch eine absurde Choreografie von Macht und Unterwerfung, Anziehung und Misstrauen gebrochen. Sie geraten in eine ambivalente Interaktion, krabbeln, stürzen, agieren feindselig und liebevoll zugleich. Ihr Auftrag hat seinen Sinn verloren. Die absolute Stille verstärkt das Gefühl von Desorientierung, Ausgeliefertsein und Bedrohung.
Auch in dem Kurzfilm La Chambre d‘ Ortolan von Anna Mitterer & Marcuse Hafner werden Rituale der Macht bloßgelegt. Als Bühne dient ein theatralisch inszenierter Raum mit wenigen Personen bei der Zeremonie des letzten Mahls eines alten, ehemals mächtigen Politikers. Nun ohne politische Funktion vermag er dennoch, mit nur minimal eingesetzter Gestik und Mimik andere zu beherrschen. Es wird ihm ein Ortolan, eine Delikatesse der Elite und damit Symbol für Macht, serviert. Tücher über dem Kopf verhindern, dass man hört und sieht, wie der Vogel verspeist wird. Auch die anderen Gäste haben Tücher über dem Kopf, bekommen aber signifikanterweise keinen Vogel zu essen.
Sandra Monterroso fokussiert in ihrer Arbeit postkoloniale Kritik, dekoloniale Strategien sowie Ahnenpraktiken und Missstände ihres Heimatlandes Guatemala. Ihr Performance-Video Musiq’ / Respiración del espíritu / Breath of the Spirit thematisiert die koloniale Machtausübung auf ihr Land, die noch heute für rassistisches Gedankengut verantwortlich ist, und ihre Befreiung davon. Sie läuft in einem Maya-Kostüm durch eine Schulklasse und atmet mit einer Papiertüte – ein Ritual zur Befreiung des Geistes, mit dem sie den Glauben an die Möglichkeit einer besseren Welt signalisiert. Auf der Tüte steht geschrieben: „Rassismus ist eine Wunde aus der Kolonialzeit, die geheilt werden kann.“
Auch Lisl Ponger beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Machtausübung von Kolonialländern auf indigene Völker sowie mit der oft verzerrten Vorstellung vom „Anderen“. Die Wegnahme außereuropäischer Kultur- und Wirtschaftsgüter und deren Aneignung ist als Ermächtigung über fremde Dinge zu lesen. Die Fotografie Western Still Life zeigt solche Trophäen, die, in einer stilllebenhaften, rituellen Inszenierung auf roten Stoffen präsentiert, das westliche Selbstverständnis ironisch-kritisch hinterfragen. Das Foto Geisterbeschwörung basiert auf Georg Baselitz’ Bild Nachtessen in Dresden. Nachgestellte Mitglieder der Künstlergruppe „Die Brücke“ inszenieren von jenen mitgebrachte und gemalte außereuropäische Objekte.
Elinora Schwartz zeigt Videos und Fotos, die die Unterdrückung der Frau in Israel auf der Basis autobiografischer Erfahrungen und ihren engagierten Kampf dagegen thematisieren. Vor ihrer jüdischen ultra-orthodoxen Community muss sie ihre künstlerischen (und zudem kritischen) Aktivitäten verbergen. Ihre Arbeit zeigt den Schmerz von Frauen, die in einer autoritären, männergeprägten Gesellschaft im Namen der Religion benutzt, unterworfen und zum Schweigen gebracht werden. In dem Video You are consecrated to be silent wird eine Frau – die Künstlerin selbst – durch mehrfach wiederholtes, wie ein Ritual inszeniertes Überstülpen von Strumpfhosen symbolisch zum Stillsein verdammt.
In Angelika Wischermanns Videoinstallation Gespannt erwarten wird auf mehreren Röhrenfernsehern gezeigt, wie eine Vase in einem langsamen, rituellen Prozess solange von der Künstlerin mit einer weißen Schnur umspannt wird, bis sie unter dem zu groß gewordenen Druck zerbricht. Wischermann ist interessiert an der Frage, ob Handlungen, die sich wiederholen oder sehr lange dauern, nicht gerade durch die zeitliche Ausdehnung ihren Sinn verlieren, weil sie nicht länger einem Zweck dienen. Die Vase zerbricht auf Grund einer körperlich anstrengenden Aktion ohne praktische Funktion – ein Ritual, das auch als Symbol für die Auswirkungen von Machtausübung gelesen werden kann.
(textliche Betreuung: Petra Noll-Hammerstiel)
Jedoch waren die Filme der Memory Trilogy von Maya Zack von Montag, 8. Juni bis Samstag, 13. Juni 2020 auf unserer Online-Cinemathek zu sehen.