Eröffnung: Montag, 11. November 2002, 19.00 Uhr
Zu den „Toys“ von Julia Kissina (Boris von Brauchitsch): Das menschliche Leben ist heilig, darüber kann man sich gegebenenfalls verständigen, wenn nicht gerade die eigenen Interessen einem solchen ethischen Konsens im Wege stehen, und Leben beginnt mit der Befruchtung, auch hier lässt sich meist Einigkeit erzielen. Aber ist das wirklich gleich schon ein Mensch, dieses winzige Ding ohne Herz und Gefühl? Ist das nicht zunächst einmal wunderbares Material für Experimente? Wollen wir in dieser Welt – die wir seit Jahrtausenden versuchen zu beherrschen und die uns, je raffinierter wir sie in den Würgegriff nehmen, immer mehr entgleitet – wollen wir in dieser Welt nicht wenigstens unseren eigenen Untergang selbst in die Hand nehmen?
Julia Kissina nähert sich diesen Ideen mit entwaffnender Skurrilität. Ihre fotografischen Arbeiten schlagen die Brücke zwischen Mythologie und genetischem Spiel. Die Ästhetik und Leistungsfähigkeit der Mischwesen und Mutanten, zu Hause in den Geister- und Götterwelten aller Kulturen, wird spielerisch erprobt. In ihrem Studio entstehen Biotope für Fabelwesen. Können die Nymphen mit drei Beinen wirklich schneller laufen? Wie sinnvoll sind die vogelartigen Arme der Waldfee? Verdoppelt sich möglicherweise der sexuelle Genuss mit zwei Genitalien?
Julia Kissinas Wesen jedenfalls haben ihre Rollen zugewiesen bekommen. Doch anstatt ihre biegsamen Knochen als Stuntmen zur Geltung zu bringen oder mit zusätzlichen Beinen den Gegenspieler beim Fußball zu verwirren, scheinen sie die Arbeit zu verweigern.
Die Gegenwelt zum Diktat der Schönheit ist von poetischer Subversion. In ihr lebt eine Horde phantastischer, märchenhafter Protagonisten, die harmlos erscheint, aber stets die These vom Progress als Kunst impliziert. Die Geister, die die Genforscher riefen, bevölkern Kissinas Szenerie. Die Künstlerin hält ihnen im Gegenzug immer wieder sanft und beharrlich die Frage nach den Optionen der Künste für kulturelle Verbrechen entgegen. Sollte die Form auch hier der Funktion folgen, dann wandelt sich zwangsläufig effiziente Mutation irgendwann in Schönheit. Die Bildnisse von verstörender Ästhetik, Kunstwerke im Zeitalter ihrer biologischen Reproduzierbarkeit, machen aus dem Weg in den Untergang ein Märchen, in dessen verklärter Romantik immer wieder die infame Realität aufblitzt und uns zu einer offensiven Haltung herausfordert.
Der Realismus der Fotografie schafft Verwirrung in bezug auf das Reale.
(Susan Sontag)
Verortete Zeiten – gezeitigte Orte: Zu Michael Michlmayrs jüngsten Fotoarbeiten (Theresia Prammer): Passages – Es fällt schwer, beim Titel, den der Autor seinen neuen Bildsequenzen vorangestellt hat, nicht an Walter Benjamins Passagen-Werk zu denken: an das Flanieren, an Zeiträume und Zeitorte, an das Zeit-Vertreiben und an das Zeit-Verlieren. Doch der Flaneur, der hier am Werk ist, hält nicht Ausschau nach Momentaufnahmen: Er montiert Aufnahme-Momente. Diese Fotografien entdecken Passagen als Schwellen-Orte, wo einem etwas, wo einer etwa „passiert“. Es sind Orte, in denen die flüchtigen Manifestationen des Alltags zu neuen Kontexten verwoben werden.
Methodisch knüpft er auch in diesen Bildkompositionen an konzeptuelle künstlerische Verfahren an: Die Serie Passages, erstmals mit digitalen Mitteln realisiert, schreibt sich ein in einen, um die mannigfaltige Dokumentation von Zeitabläufen kreisenden Werkkomplex. Doch neben der Wiederholung spielen diese Arbeiten auch mit dem Fragmentarischen, es hinterfragend in der neuen, nahtlosen Zusammensetzung: Das Miteinander der einzelnen Bildmomente erzeugt sukzessive neue Bilder, suggeriert eine strukturelle Kompaktheit, die dem Einzelbild nicht eigen ist. Auf Passage folgt Passage, jede der Passagen durchläuft unterschiedliche Phasen. Aus immer variierenden Konstellationen werden Verknüpfungen, Überlappungen, Verdichtungen gewonnen. Die Offenheit des Blickwinkels lässt die Ausschnittwahl nicht weniger notwendig erscheinen: Das Bild selbst wird so zum Durchgangsort, ist die Passage, von der es erzählt. Mit systematischer Sorgfalt konfrontiert Michlmayr die realen Orte mit den imaginären, montiert er aufgelesene Zeit-Punkte zu neuen Zeit-Fresken, multipliziert das Gesehene, lässt das Original hinter dem Duplikat verschwinden. Orte und Zeiten auf den Bildern geraten in Kommunikation und verweisen auf einen Zeit-Raum, in dem Gewesenes und Nicht-Gewesenes koexistieren, und in dem das Vertrauen in die Abbildungsfunktion des Bildes suspendiert ist: Zeit wird lesbar gemacht durch Vervielfältigung, Verfremdung. Das Wahr-Genommenene kann nicht „für wahr“ genommen werden, es gibt keine Realität, nur noch simultane oder zeitversetzte „Realitäten“, die sowohl abgebildet als auch erzeugt werden können.
Die Resultate haben tatsächlich etwas von einer Bühne: eines alltäglichen absurden Theaters, das in seinen Bann zieht, das wie ein Bild-Band (filmisch) an einem vorbeizieht. Zum einen hat man es dabei mit – im besten Sinne – „gestellten“, nämlich vorgestellten, neue Zusammenhänge erstellenden Aufnahmen zu tun, zum anderen mit fröhlichen Dokumentationen städtischen Lebens: voller Zufallsbegegnungen, Zufallsprodukte, in neue Sinnkonstruktionen überführt.
Die Anwendung der digitalen Technik und die damit einhergehende bewusste Manipulierung der Bildoberfläche verstärken die aleatorische Wirkung dieser Fotoarbeiten: „Einerseits wurden zeitliche Abläufe mit digitalen Mitteln zu einem räumlichen Ganzen verschmolzen, andererseits wurde eine „komplette“ Rundumsicht zeitlich zergliedert“, so der Autor. Jedoch nicht aus der deklarierten Virtualität der Wiedergabe resultiert die Entfremdung, sondern aus der Splittung der Bilder, aus der Strategie der Wiederholung, die im Betrachter eine Art „Blow-up“-Effekt hervorruft. Welche Realität enthüllt sich auf diesen Fotos? Welche Realität steht ihnen vor? Offenbaren sie nicht neben dem Gewesenen nicht ein Mögliches, und in jedem Möglichen ein neues Gewesenes? Diese Sujets (Dinge, Tiere, Menschen), gesucht oder zufällig aufgelesen, scheinen zu ahnen, dass sie „eins und viele sind“. Das Auge des Betrachters, das von Gesicht zu Gesicht schweift, streift stets die selben Gesichter: Doubles, immer neue Aufspaltungen einer Wirklichkeit, die eben durch die Gleichförmigkeit der Präsentation in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit zutage tritt.
Keine Passagen ohne „Passanten“. Denn die vorliegende Arbeit ist nicht nur eine Studie über Land- und Zeitschaften, sondern auch eine Studie über Fort-Bewegungs-Arten von Zeitgenossen: über Menschen, ineinander- und gegeneinandergedreht, über Fitness- und Freizeit-Fadesse, über Bewegung als Selbstzweck (Greifenstein) und flüchtige Kontakte.
Seinem Verfahren vermag der Autor durchaus auch komische Seiten abzugewinnen (wie in der Wiener Impression Hundezone), oder beklemmende wie in der Prater Hauptallee.
Als von digitaler Fotografie noch keine Rede war, hat Roland Barthes den Begriff des „Ca-a–été“ geprägt: das Foto als das Tatsächlich-Dagewesene, als Spur einer materiellen Begebenheit, die stattgefunden hat, stattgefunden haben muß: das Auf Genommene als Aufzeichnung eines Wirklichen, die Aufnahme als mehr oder weniger objektives Zeugnis. Mit dem Aufkommen der digitalen Technik die radikale Aufweichung dieser Sicherheiten: Der Referent als Auslöser, „Anzettler“ des optischen Vorgangs ist nicht mehr mit derselben Klarheit bestimmbar, die Sujets sind – trotz oder gerade aufgrund der mitunter noch raffinierteren technischen Präzision – wieder uneindeutig geworden. So auch bei diesen Fotografien: Zwar nimmt sich die Manipulation eine reale Szene zum Ausgangspunkt, doch verliert die Wiedergabe an Verlässlichkeit. Was war? Die Menschen und Situationen zum Zeit-Punkt der Aufnahme? Die fertige Komposition nach der Zusammenstellung durch den Autor? Was könnte sein? Was stattgefunden hat, wird auf eine Weise fixiert, die keine klaren Bezüglichkeiten mehr zulässt. Die Aufzeichnung erfolgt ohne Gewähr, ohne Anspruch auf Verifizierbarkeit. Der Betrachter kann der Zeit-Punkte des Bildes nicht habhaft werden, verliert sich im Vexierspiel der Facetten und Fluchtpunkte.
In der Verwischung der zeitlichen Strukturen führt Michlmayrs Herangehensweise auch den Schnappschuß ad absurdum. Die Passagen zeigen Menschen, die wirken wie Bilder von Bildern; das fotografische Bild vermittelt nicht das Wesen dieser Begegnungen, schafft keine Unmittelbarkeit, versucht keine Annäherung an die Psychologie. Diese Fotoarbeiten zeigen Menschen und Dinge nicht nur: sie transzendieren und zeitigen sie, entpersönlichen die Begegnungen. Bald erscheinen die Personen Opfer einer momentanen Betäubung, bald werden sie in ihren frenetischen Aktivitäten zur eigenen Parodie. Michael Michlmayrs fotografische Montagen sind Reflexionen über diese Nicht-Äquivalenz des Gleichen, diese Differenzspanne zwischen Selbigem und Gleichem, Gewesenen und Nach-Gestelltem, Vor-Gefundenem und Nachempfundenem (Erfundenem), sind Versuche über die Unübersetzbarkeit einer Sache in sich selbst.
Die Reduktion (oder Konzentration) auf das Wenige und Wesentliche wird in manchen Bildern zum Prinzip: am meisten und magischsten geschieht dies im Meerblick, dem Bild, das nur ein einziges Blau über das Blatt ausgießt, den Bildträger überflutend bis auf ein – helleres, aber ebenso blaues – Band, das der Horizont ist. Hier ist die Metapher vom „Streifen Horizont“ beim Wort genommen, die Farbe wird zum Pars pro toto für das Ganze. Erst die Einsamkeit der Schwimmer vor dem Hintergrund dieses Blaus, in einem Streifenmeer von Motorbooten, macht das Meer als solches bestimmbar. Und holt den staunenden Betrachter vom Himmel auf den Boden zurück.