Eröffnung: Montag, 7. April, 19.00 Uhr
Einleitende Worte: Lucas Gehrmann
„Dokumentation“ als fotografische und filmische Gattung wird traditionell mit „objektiver“ Bestandsaufnahme der Wirklichkeit verbunden. Der dahinter stehende wissenschaftliche Anspruch unterscheidet damit die Dokumentation von der Reportage, aus der sie als künstlerische Gattung in den 1920er-Jahren hervorgegangen ist.
Zugleich war man sich schon damals des erzählerisch-literarischen Anteils solcher Dokumentation bewusst – so schrieb z.B. der französische Spätsurrealist Pierre Mac Orlan: „Dokumentarphotographie (…) ist ihrem Wesen nach literarisch, denn sie ist nichts Geringeres als eine Aufzeichnung zeitgenössischen Lebens, festgehalten im richtigen Moment von einem Künstler, der dazu befähigt ist, genau diesen Moment festzuhalten.“1 Mit der gedanklichen Einbeziehung des Subjekts (der dokumentierenden Person) und des subjektiven Aufnahmezeitpunkts relativiert sich der reine Dokumentationscharakter zusehends. Statt von Wirklichkeitsabbildung wird eher von Wirklichkeitsbezug die Rede sein können, womit sich, wie Roger Odin 1990 feststellte, ein ganzes Spektrum an Fragen öffnet: „Er (der Begriff „Wirklichkeitsbezug“) zwingt nämlich zur Definition dessen, was man unter Realität versteht und führt unweigerlich in die delikate philosophische Debatte über das Reale und das Imaginäre, das Wahre und das Falsche, kurz, er nötigt einen dazu, den Wert der mitgedachten Realitätsmodelle und – allgemeiner – nach dem Status des Sehens selbst zu stellen.“2 Die jüngeren Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung und -generierung führen schließlich zu einschneidenden Auswirkungen auf unsere Wahrnehmungsgewohnheiten und unseren Realitätsbegriff und ebenso natürlich zu einem Aufbrechen der Grenzen der Fotografie und ihrer klassischen Genres. Von einer ganz anderen Seite her öffnet sich ein konjunkturkräftiger Markt, der ein offenbar breites Bedürfnis nach (medial vermittelter) Wirklichkeit (des „zeitgenössischen Lebens“) in Form von Reality-TV, Gameshows oder Reality-Soap in Film und Fernsehen stillt bzw. evoziert. Solche Dokumentation (am liebsten, wenn möglich, in „real time“) überschreitet nicht allein die letzten Grenzen der Trennbarkeit von Fiktion (Inszenierung) und Wirklichkeit, sie sprengt darüber hinaus die Schranken zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, zwischen (menschlichen) Innen- und Außenräumen. Wie kann Dokumentation als künstlerisches Genre (in Fotografie, Video und Film …) in diesem zeitgenössischen Kontext beschaffen sein? Der dreiteilige Ausstellungszyklus der Fotogalerie Wien zu diesem Thema möchte einige unterschiedliche künstlerische Perspektiven anhand von ausgewählten Arbeiten zur Darstellung bringen – mögliche Formen der Dokumentation im Zeitalter der (Des)Illusion.
In den in der ersten Ausstellung gezeigten Arbeiten werden primär Fragen nach dem Spannungsfeld zwischen Öffentlichem und Privatem angesprochen – inwieweit sich diese beiden Sphären durchdringen, wo Privates öffentlich sichtbar (gemacht) wird bzw. wo gesellschaftliche Norm in die Gestaltung des Privatbereichs Einzug nimmt.
Gegenüber dem Low-Tech-Prinzip des Stummfilms La Strada steht die aus zahllosen Webcamgrabs, Bildern historischer Ansichten oder utopischer Zukunftsvisionen sowie Klängen aus offenen Mikrofonen und City-Soundscapes zusammengesetzte und sich permanent verändernde Alien City (1999–) der Künstlergruppe Alien productions (Martin Breindl / Norbert Math / Andrea Sodomka). Wenn Alien City auch eine durch und durch virtuelle Stadt im Cyberspace ist, so ist sie doch keine fiktive Stadt: „Sie existiert tatsächlich, schwebt im Diskontinuum von Zeit und Raum des WorldWideWeb. Die einfache Präsenz jeder neuen BesucherIn bewirkt Veränderungen ihres Aussehens, jede Bewegung führt zu einem Wandel, einer Verschiebung ihres Gesamtgefüges. Aber diese Veränderungen sind subtil. Wie in allen Städten dieser Welt kann man nie wissen, wo sie als nächstes auftauchen werden.“ Gelangt Alien City zwischen seiner reinen Web-Existenz auch einmal an ein Ausstellungspublikum, landet sie noch einmal an der Schnittstelle zwischen so genanntem Realraum und sogenannter virtueller Welt. „Die Grenze zwischen diesen beiden ist ohnehin durch die Neuen Technologien längst durchlässig geworden. Zu stark sind bereits die Wechselwirkungen, die gegenseitigen Beeinflussungen, als dass man überhaupt noch von zwei Räumen sprechen könnte. Der Raum, in dem wir uns bewegen, ist gleichermaßen geprägt vom „Realen“ wie vom „Virtuellen“, und zwar so sehr, dass uns Unterscheidungen immer schwerer fallen. Die Verflechtung zwischen den beiden ist das geworden, was wir Realität nennen.“
Private und öffentliche Räume lautet der Titel einer Fotoserie, die Tizza Covi & Rainer Frimmel zwischen 1999 und 2000 in der Kaliningrader Oblast aufgenommen haben, in jenem einst ostpreußischen Gebiet um das alte Königsberg also, das – von 1945 bis 1990 unzugänglich für Ausländer und auch die meisten SowjetbürgerInnen – heute als Exklave Russlands zwischen den EU-Beitrittsländern Polen und Litauen und somit bald nicht nur geografisch wieder in „Europa“ liegt.3 Die von Tizza Covi und Rainer Frimmel aufgenommenen Räume sind am ehesten in jenem Zwischenbereich einer „Zone“ anzusiedeln, aus der sowohl alle Spuren einer älteren kulturellen Vergangenheit als auch der aktuellen Zeitgegenwart getilgt zu sein scheinen. Menschenleer und doch noch offenkundig in Betrieb, mutieren sie bereits mitsamt ihrem pseudomodernistisch-pseudobürgerlichen Interieur osteuropäisch-spätkommunistischer Prägung zu Orten der Vergänglichkeit. Als Leerstellen des „guten Geschmacks“ vermitteln sie zugleich den (fragwürdigen) Charme einer bald nicht mehr existierenden Welt. Doch solche Ressentiments sind letztlich nichts anderes als Interpretationen der BetrachterInnen solcher Bilder, die von sich aus nicht mehr und nicht weniger als den Ist-Bestand zeigen, ähnlich wie dies in dem ebenfalls im Kaliningrader Oblast entstandenen Film der beiden KünstlerInnen der Fall ist und der den bezeichnenden Titel trägt: „Das ist alles“.4
Innenräume mit privatem Charakter, wenn auch nicht zu Wohnzwecken benutzte, zeigt Simone Demandt in ihrer Fotoserie Freud+++e am Leben, 2002–03, nämlich Garagen – Eigenheim-Garagen, die wie Guckkastenräume wirken, deren Hauptakteur allerdings, das Automobil, abwesend ist. Zugleich wird dadurch der Blick frei auf einen Raum, der, wie Johannes Meinhardt schreibt, heute alle Sonderfunktionen früherer Nebengebäude der bäuerlichen oder handwerklichen Tradition in sich vereint: Lager, Werkstatt, Remise, Schuppen, Scheune etc. Die hier aufbewahrten Objekte gehören funktional aber nicht mehr dem Arbeitsbereich an, sondern an ihre Stelle sind „in hohem Grade libidinöse Funktionen getreten, die dem Bereich der Freizeit zugehören, einem Bereich lusterfüllter Gegenstände und Tätigkeiten …“ Die Fotografin zeigt diese Räume mit systematischem, streng geregeltem Blick, und sie trennt sie zugleich heraus aus ihrem baulichen und sozialen Kontext, wodurch „dieses scheinbar banale Sujet eine erstaunliche Vieldeutigkeit und Unlesbarkeit zu enthüllen beginnt“, sich als schwer zu durchdringende soziale Realität zeigt. 5
Weder privat noch öffentlich sind die Fremden Orte (1999–2003) von Ernst Logar. Das Waffenlager der Bundespolizei in Wien, der Haupttresorraum der Österreichischen Nationalbibliothek, das Büro für Weltzeitbestimmung in Paris … sind Räume, die besonders strikten Zutrittsbeschränkungen unterworfen und somit auch kaum oder gar nicht im öffentlichen Bewusstsein präsent sind. Umso gewichtiger ist oft ihre politische, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Bedeutung. Ernst Logar recherchiert seit Jahren solche Orte und bemüht sich über langwierige Amtswege um Fotogenehmigungen zu künstlerischen Zwecken. Bei Erfolg entstehen Foto- und Videodokumentationen vom Ort und auch des Arbeitsprozesses. Seine Schilderungen dieser Orte sind, wie Claudia Slanar sagt, „lapidar und fernab jeder Spekularität, andererseits sehr subjektiv – die Bildausschnitte sind bewusst kalkuliert und komponiert im Hinblick auf Öffnung zur dritten Dimension.“6 „Fremd“ sind seine Orte dabei nicht allein aufgrund ihrer Abgegrenztheit vom öffentlichen Bereich, sondern auch durch die „Absenz von Körperlichkeit im engsten Sinn: die Orte sind menschenleer. (…) Das Weglassen der sozialen Komponente und die Reduktion auf die Architektur evozieren Zeitlosigkeit. Der Raum wird nicht nur ver-, sondern auch entfremdet.“
Mit Fassadenbilder ließe sich der neuere fotografische Werkzyklus (2002/03) von Gisela Erlacher betiteln. Ihre Fassaden – meist aus Wien – zeigen jedoch nicht das repräsentative „Gesicht“ eines Gebäudes, sondern blinde, fenster- und türlose Seiten- und Feuermauern oder auch ganze „gesichtslose“ Siedlungshäuserfronten oder einfach flächige Abgrenzungen und Zonen im urbanen Gefüge. Nicht um den architektonischen Körper und auch nicht um die Fassade als Konstruktion geht es also in dieser Arbeit, sondern, wie Maria Schindelegger schreibt, um die „tableauartige Flächenhaftigkeit derartiger Mauern, die aufgrund ihrer malerischen Oberflächenqualitäten als überdimensionale Leinwände im öffentlichen Raum in Erscheinung treten (…). Indem Gisela Erlacher die Bildhaftigkeit dieser Wände betont, verweist sie darauf, dass Architekturfotografie niemals eine neutrale Bestandsaufnahme liefern kann, sondern stets einem gewissen Abstraktionsprozess unterworfen ist, der bereits in der Zweidimensionalität des Mediums begründet liegt.“7
Wände im Stadtraum mit potenziellem Bildcharakter sind auch das Sujet der Foto- bzw Billboardserie Gegenorte (2002) von Peter Köllerer – nämlich Plakatwände. Und auch hier steht nicht die Hauptansicht im Blickfeld des Fotografen, sondern deren Kehrseite: die (unplakatierte) Plakatwandrückseite mit ihrem Umfeld. Neben ihrer primären Funktion als Trägerinnen von Werbeplakaten kommt, so Peter Köllerer, den „Plakatwänden noch eine weniger offensichtliche Aufgabe bei der Organisation urbaner Strukturen zu: die des Abschirmens“ von Orten, die sich im Zustand der Veränderung befinden oder denen keine klare Funktion im städtischen Leben zugewiesen ist. Diese (oft nur temporär) funktionslosen Stadtlandschaftsausschnitte nennt Köllerer „Gegenorte“, die er nun an Orte der Öffentlichkeit zurückbringt, indem er ihre Abbildungen im Plakatformat auf die „reguläre“ Seite von Plakatwänden affichieren lässt. Damit werden für die Vorstellung nicht nur „Gegenorte“ zu Orten, sondern auch Orte zu Gegenorten.
Vom überwachten, hermetischen Raum Peter Köllerers bringt uns Katja Stuke mit ihren Videostills CCTV (2001–2003) in den Blickwinkel von im öffentlichen Raum installierten Überwachungskameras. Zu sehen sind der Eingangsbereich eines Gebäudes (einer Bank z.B., denkt man sich zunächst), ein Flachdachkomplex mit Antennen, ein öffentlicher Hausdurchgang, dann aber auch ein Mädchen auf einer Parkbank oder einfach Leute, die die Straße entlang spazieren. Wo überall wird was und wer beobachtet und von wem? „Die Sorge um die Sicherheit in öffentlichen Räumen … lässt die Anzahl der Videokameras in den Städten stetig wachsen. Vermeintliches Wissen über bestimmte Bevölkerungsgruppen, Vorurteile über ihr Leben und Handeln führen dazu, dass in öffentlichen Räumen vornehmlich bestimmte Orte und Gruppen von Menschen überwacht werden“, schreibt die Künstlerin. Rückschlüsse aus aufgezeichneten Bildern sind beeinflusst vom Wissen der Beobachter, das nicht selten von Mutmaßungen geprägt wurde. Die Unschärfe der Bilder, ihre farbliche Unbestimmtheit und das stets Ausschnitthafte spiegeln quasi diesen Spekulationsraum der Interpretation im Medium selbst. Die Serie CCTV gibt zu erkennen, dass die wirklichen Begebenheiten des gezeigten Geschehens nicht aufgelöst werden können.
Als „poetisch-märchenhafter und zugleich krass realistischer Film“ wird Fellinis La Strada. Das Lied von der Straße (1954) gerne kurz beschrieben. La Strada (2002) von Fabian Seiz spielt auf den Titel dieses Filmwerks an, und tatsächlich ist auch eine (Kamera-)Fahrt im Automobil mit Schwenks nach rechts und links zu sehen. Die Bilder, aus denen sich dieser Film zusammensetzt, sind allerdings unschwer als fotografische Einzelbilder zu erkennen, die, zu einer Animation zusammengestellt, eine rasende, weil zeitlich kurze und distanzmäßig lange Fahrt (zwischen Toronto, Kanada, und Florida, USA) zeigen. Der Zeitraffer wird geloopt dann zur Endlosigkeit verlängert. Das Material ist Found-Footage im weiteren Sinn: auf einem Flohmarkt gefundene Urlaubsfotos aus den 1980er-Jahren. An die Grenzen unserer Wahrnehmungsfähigkeit gerückt, lässt La Strada nicht zuletzt an die Geschwindigkeit und Flüchtigkeit von Bildern denken, aber auch an den touristischen Blick und das Prinzip der Wiederholung von weitgehend belanglosen Informationen.
1 zitiert nach Susanne Holschbach, in: „Netzgespräch Wirklichkeitsfotografie“; in: „Nach dem Film“, Nr. 2, 2001, http://www.nachdemfilm.de/no2/wir01dts.html
2 Roger Odin, „Dokumentarischer Film – dokumentarisierende Lektüre“, in: Christa Blümlinger (Hg.), „Sprung im Spiegel. Filmisches Wahrnehmen zwischen Fiktion und Wirklichkeit“, Wien 1990, S. 125
3 „Beim Treffen des EU-Russland-Kooperationsrats am 15. April [2002] in Luxemburg und beim bevorstehenden EU-Russland-Gipfel am 28. Mai in Moskau ist aus deutscher Sicht die Zukunft Kaliningrads, des früheren Königsberg, eine entscheidende Frage. In der deutschen Presse wird davon ausgegangen, daß Kaliningrad bald „nicht mehr Teil Russlands sein werde“. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung bezeichnet Kaliningrad als „wesenlosen Fremdkörper, der noch zu Russland gehört, aber nicht mehr weiß, warum. Bald werde Königsberg ein Teil der EU, nicht als Mitglied, aber doch geographisch und auf mittlere Sicht auch wirtschaftlich.“
Aus: „Königsberg bald nicht mehr Teil Rußlands“, in: „Informationen zur deutschen Außenpolitik“, 17. 4. 2002, http://www.german-foreign-policy.com/de/news/article/1018994400.php
4 Tizza Covi & Rainer Frimmel, „Das ist alles“ , AT 2001, 98 Min.
5 Claudia Slanar, Ernst Logar: Fremde Orte, 20016 Johannes Meinhardt, „Der Gegenstand der Photographie. Zwei Photoserien von Simone Demand“, in: Simone Demand, „Freude am Leben“, Kat. Museum im Ritterhaus (Hg.), Offenburg 2003
7 Maria Schindelegger, unpubl. Manuskript, 2003
8 Martin Breindl/Alien productions, Alien City/Dialog zweier Passanten in der Menge. Katalogtext zu Performance und Installation beim hamburger musikfest 01, September 2001, http://alien.mur.at/theory/aliencity_hamburg.html
(textliche Betreuung: Lucas Gehrmann)