Das Fotoprojekt mit 100 KünstlerInnen wurde von Waltraud Palme und E.A. Richter (Richtex) entwickelt. Dazu ist 1994 ein Buch erschienen.
Jeder Leser der philosophischen und politischen Schriften von Günther Anders kennt eines der rätselhaftesten Länder der Literatur: Molussien. Eingestreut in seine theoretischen Analysen der modernen Industriegesellschaft, versteckt in seinen Reflexionen über die atomare Bedrohung, eingeschmuggelt in Michael Schmidts „Philosophie der Technik“, finden sich bei Anders immer wieder Sprichwörter und kleine Geschichten, fiktive Texte und Gedichte aus diesem nie näher bestimmten Land, so, als ob damit ernstzunehmende Belege für seine Thesen gefunden wären … Was hat es mit dem Ur-Molussien wirklich auf sich? Molussien – das ist ein fiktives, von einem autoritären System beherrschtes archaisches und archetypisches Land am Vorabend einer Revolution … (Konrad Paul Liessmann, in: Günther Anders kontrovers, Beck’sche Reihe 467)
Inventur. Sammlung. Raumzeit. Der Ursprung des Projekts DER MOLUSSISCHE TORSO läßt sich fast bis zum Beginn unserer gemeinsamen künstlerischen Tätigkeit, zumindest aber bis in das Jahr 1989, zurückverfolgen. Damals konnten wir zwei Monate lang ungestört in den Räumlichkeiten der ehemaligen Imperial-Feigenkaffee-Fabrik mit der Hinterlassenschaft der dort Beschäftigten arbeiten. Die Ergebnisse präsentierten wir im Rahmen der Ausstellung IM:REAL.
Unter den in der Fabrik gefundenen Dingen waren auch Karteikästen aus dem Firmenarchiv, die die äußere Form für eine Fotoarbeit von Waltraud Palme abgaben: 10 PERSONEN wurden anläßlich der Gemeinschaftsausstellung INVENTARISIERUNG im Februar 1991 in der FOTOGALERIE WIEN gezeigt. Eine Sammlung von Kleidern und zugleich eine Sammlung von Personen. Die Anordnung von Teilen eines möglichen Gesamtbildes der jeweils 40 Kleiderfotos hintereinander in 10 Karteikästen verhinderte den synchronen Blick auf die Bildgegenstände und machte das Betrachten zu einer intimen Blättertätigkeit, die ein vergleichendes Schauen in den Kopf verlegt, damit die iterative Suche eines Archivars imitierend.
Vor diesem Projekt mußte entschieden werden, wie die Kleidungsstücke fotografiert werden sollten: flach oder drapiert auf dem Boden liegend, von einem Bügel hängend oder einem menschenähnlichen voluminösen Körper übergestreift. Wir zogen letzteres vor, beschafften uns eine etwas lädierte Schneiderpuppe und benutzten sie als Körperattrappe. Die Personen, die bereit waren, uns ihre Kleiderkästen zu öffnen, fanden wir im näheren Bekanntenkreis. Dabei ging es auch schon um den Transport eines verbindenden Objekts, wenngleich dieses keineswegs direkt bildgestaltend eingesetzt wurde, sondern nur als stumm dienender Träger, an dem vor immergleichem Hintergrund die Kleidungsstücke bei gleicher Beleuchtung und Distanz abfotografiert wurden.
Ein weiterer Aspekt, der dezidiert – im Gegensatz zum vorhergegangenen Registrieren, Sondieren und Sortieren innerhalb der Dingwelt einer Fabrik – bei diesem Projekt auftauchte und auf das TORSO-Projekt verwies, war der notwendige persönliche Kontakt. Auf eine gewisse Weise drangen wir immer in eine Intimsphäre ein, da ja im Normalfall niemand alle seine Kleidungsstücke vor einer/m BesucherIn ausbreitet. Die Aneinanderreihung von Fotos der meisten Kleidungsstücke, die jemand besitzt, charakterisieren diesen auf eine sehr eindeutige Weise, da sie ja das, was er repräsentieren will, und das, was er repräsentiert, öffentlich erscheinen läßt. Sie enthüllen demnach etwas gewöhnlich Verborgenes. Bei einer Inventur schaut man, was da ist, und gibt dem Vorhandenen Inventarnummern. Bei unserem Projekt DER MOLUSSISCHE TORSO bestand unser Hauptinteresse darin, eine Inventur in einem fiktiven Haus, dem der Fotografie, zu machen, und zwar in der Abteilung Arbeit bzw. Spiel mit einem vorgegebenen Objekt. Das heißt: wir wollten sehen, welche Möglichkeiten den von uns in das Projekt involvierten Künstlerinnen und Künstlern zur Verfügung stehen, das Medium Fotografie einzusetzen bzw. mit fotografischen Mitteln in Bezug auf ein bestimmtes Objekt künstlerisch zu arbeiten.
Die erste Idee zum TORSO-Projekt hatten wir am 28.3.1991 in Berlin. Sie bezog sich zuerst nur auf deutsche FotokünstlerInnen und fand ihre Fortsetzung bei der ART FRANKFURT in der Begegnung mit Ottmar Hörl, einem Künstler, der u. a. Fotofolgen dadurch erzeugt, daß er ausgelöste Kameras von Häusern, Türmen usw. wirft. Er verstärkte die ursprüngliche Absicht, Bildclusters vom Umraum des jeweiligen Fotografen anzufertigen, und zwar dadurch, daß er in seinem Atelier, in das er uns eingeladen hatte, nicht anzutreffen war und wir mit der Einkreisung des Ortes vorliebnehmen mußten. Wir zweifelten aber bald daran, diese „Porträts“ auf dem Wege von Einzelblicken auf Details der Umgebung bzw. der Arbeitsstätte des Künstlers erreichen zu können., Wir suchten daher nach einem Objekt, das uns die Türen quasi von selbst öffnen würde.
Die Wahl fiel dann auf eine aus der Zwischenkriegszeit stammende Schaufensterpuppe, die uns, aufgrund eines Inserats, Ende Februar 1992 von einem Mann aus Krems nach Wien gebracht und uns beim McDonald’s am Schwedenplatz zuerst nur unverbindlich gezeigt wurde. Es war jedoch gleich Liebe auf den ersten Blick, da es sich, um keine neue charakterlose handelte, sondern um eine aus Papier, Pappe, Kleister und Holz hergestellte, vom oftmaligen Gebrauch versehrte. Sie kam unserem Interesse an Gegenständen, die Arbeits- und Zeitspuren tragen, entgegen.
Damit war der Anfangspunkt eines Prozesses in einem speziellen Raumzeit-Segment gesetzt, der uns im Laufe von zwei Jahren mit mehr als 100 Beteiligten zusammenführte, wobei gleich zu Beginn die beiden Extrempositionen der Art der Beteiligung sichtbar wurden. Richard Kriesche repräsentiert die eine Seite: kein direkter Kontakt mit uns, auch keiner mit dem Objekt; Kontakt mit uns nur per Fax und Telefon, mit dem Objekt über dessen Bild. Und er gab uns, den Auftraggebern, den Auftrag, ein Foto nach seiner Skizze anzufertigen. Eva Choung-Fux hingegen hielt uns an, ihr die Puppe einige Tage zu überlassen, wobei drei neunteilige Portfolios entstanden, die sie später in ihrem Atelier ausstellte. Auf ähnliche Weise haben auch Freiler und Pöschko, um nur zwei zu nennen, reagiert. (Freiler sagte, er habe schon längere Zeit auf ein besonderes Objekt gewartet, um eine bestimmte Idee zu verwirklichen.)
Wir nahmen bei denen, die wir, wie es meistens passierte, persönlich aufsuchen konnten, neben der Rolle der Überbringer ganz verschiedene Rollen ein: in der Bandbreite von Zuschauern bis zu Mitautoren des Bildes. Manchmal wurden wir zum Bestandteil einer vom Künstler gewählten Inszenierung, manchmal zu Zeugen seiner Bildfindung, vor allem aber –- und das immer öfter zum Projektabschluß hin – Empfänger eines fertigen Bildes. Man kann auch sagen: Wir haben uns aus organisatorischen und zeitökonomischen Gründen, aber auch aus Rücksicht auf die Wünsche der Beteiligten immer mehr von der direkten Teilnahme am Bildschöpfungsakt zurückgezogen.
Der Prozeß der Anbahnung samt der sich daraus ergebenden Transporttätigkeit, den Besuchen und Aufenthalten, ist ein integraler, nicht sichtbarer (von uns auch nicht sichtbar gemachter), uns jedoch sehr wichtig erscheinender Bestandteil des Projekts. Er stellt dessen topografische Seite dar. Aus unserer Perspektive waren wir die verbindenden Elemente, wir und unser rotbrauner Pappkoffer, in dem der Torso, von zwei hellgrünen Schaumstofftelien geschützt, transportiert wurde, samt dem in einer rotkarierten Tasche verstauten Dreibein, dem Beinstab, der Distanzscheibe und dem Abschlußstück sowie dem Stab, mit dem der Torso durchbohrt werden muß, um ihn in der Senkrechten zu fixieren, der meistens in einer grünen Samthülle steckte. Mit diesem Dritten (und Vierten) in den Händen sind wir immer als Paar erschienen, mit der Absicht, die Teilnehmer auch persönlich kennenzulernen, auch im Sinne einer vergleichenden Forschung, den produktionssoziologischen Aspekt ihres Werks betreffend.
Als ein Beispiel dafür, daß das erste Bild nicht das letzte sein muß, sei Kai Tom Lingau genannt. Er hatte uns als Überbringer in ein Bild eingebaut, verwarf dieses und noch andere Bilder jedoch nach mehr als einem Jahr. Er bearbeitete dann das Ausgangsfoto elektronisch und versah es mit dem Wort MUSTERBILD, was seine Auseinandersetzung mit dem Projekt über einen längeren Zeitraum hinweg dokumentiert: das Situationsbild des Musters (=Torsos) samt den Überbringern hat sich auf das Muster des Bildes reduziert. Er hat auch das Projekt genauso prozessual wahrgenommen wie wir, allerdings aus seiner punktuellen Beteiligtensicht, während wir unsere zentrale, sammelnde Position nie verlassen haben.
Für alle Mitwirkenden vereinen das Buch und die Ausstellungen die entstandenen Produkte, aber auf eine ganz andere Weise, als in dem von uns realisierten Torso-Raumzeit-Segment, dessen Ablauf sich auch an den – zum Teil dokumentierten – Veränderungen am Puppenensemble ablesen lassen: Der Gebrauch hat die Außenhaut des Torsokörpers an verschiedenen Stellen abgeschunden, verletzt; der erste Standfuß, eine runde Platte mit drei kleinen Füßchen, wurde nach einiger Zeit durch ein stabileres Dreibein ersetzt.
Inzwischen ist die Puppe wieder in einem Keller gelandet, in unserem, in ihrem Transportkoffer eingeschlossen; und ihre Anwesenheit beunruhigt uns und stimmt uns traurig. Das leitmotivische Objekt ist am Endpunkt seines Transports von einem Ort zum anderen angelangt. Die nun folgende Liste markiert unsere Erinnerungspur mit Namen und objektiven Daten; die subjektiven werden hier nicht publiziert. (Richtex)
Der molussische Torso im Raum-Zeit-Kontinuum:
11.03.1992, Susanne Gamauf, Wien
28.03.1992, Thomas Freiler, Wien
08.04.1992, Bodo Hell, Wien
11.04.1992, Maria-Theresia Litschauer, Wien
11.04.1992, Ines Nikolavcic, Wien
21.04.1992, Willy Puchner, Wien
22.04.1992, Richard Kriesche, Graz
30.04.1992, Eva Choung-Fux, Wien
03.05.1992, Heinz Cibulka, Ladendorf/NÖ.
26.05.1992, Thomas Northoff, Wien
12.06.1992, Renate Bertlmann, Wien
14.06.1992, Robert F. Hammerstiel, Wien
28.06.1992, Michael Wrobel, Olgersdorf/NÖ.
08.07.1992, Gsaller, Steyr
08.07.1992, Walter Ebenhofer, Steyr
03.08.1992, Peter Meissner, Berlin
03.08.1992, Henry Szafranski, Berlin
04.08.1992, Kain Karawahn, Berlin
04.08.1992, Florian Merkel, Berlin
04.08.1992, Hans Pieler, Berlin
04.08.1992, Horst-Berd Sefzik, Berlin
05.08.1992, Peter Frenkel, Potsdam
11.08.1992, Stefan Büchner, Hamburg
11.08.1992, Thomas Müller , Hamburg
11.08.1992, Ute Karen Walter, Hamburg
12.08.1992, Kai Boxhammer, Hamburg
14.08.1992, Thomas Berndt, Hannover
15.08.1992, Wilhelm W. Reinke, Braunschweig
16.08.1992, Günther Ludwig, Bordenau
16.08.1992, Christa Zeißig, Wolfenbüttel
17.08.1992, Thomas Nowak, Braunschweig
19.08.1992, Rosy Beyelschmidt, Köln
19.08.1992, Brand/Thom, Köln
19.08.1992, Frank Homeyer, Köln
19.08.1992, Kai Thom Lingau, Köln
20.08.1992, Vera Loermann, Düsseldorf
20.08.1992, Seibert/Fuchs, Düsseldorf
20.09.1992, Helmut Schäffer, Krems
25.09.1992, Elfriede Mejchar, Wien
07.02.1993, Maria Sewcz, Berlin
08.02.1993, Tina Bara, Berlin
08.02.1993, Wittke/Reul, Berlin
09.02.1993, Manfred Paul, Berlin
09.02.1993, Uwe Wollschlaeger, Berlin
10.02.1993, Bernd Borchardt, Berlin
12.02.1993, Katharina Vogel, Berlin
13.02.1993, Elf Fröhlich, Berlin
19.02.1993, Karl-Heinz Eckert, Berlin
08.04.1993, Rolf Aigner, St. Johann/NÖ.
09.04.1993, Michael Sardelic, Ried i. Innkreis
01.05.1993, Inge Dick, Loibichl/OÖ.
18.05.1993, Norbert Nestler, Graz
18.05.1993, F.-J. Nestler-Rebeau, Graz
18.05.1993, Max Aufischer, Graz
23.05.1993, Branko Lenart, Graz
24.05.1993, Heinz Pöschko, Graz
26.05.1993, Georg Held, Graz
26.05.1993, Erich Kees, Graz
28.05.1993, Hermann Candussi, Graz
29.05.1993, Klaus Hartl, Leibnitz
16.07.1993, David Zidlicky,Brünn
16.07.1993, Vladimir Zidlicky, Brünn
16.07.1993, Michal Mackü, Olmütz
02.08.1993, Robert Zahornicky, Pressbaum
11.08.1993, Herbert Huber, Salzburg
11.08.1993, Andrew Phelps, Salzburg
11.08.1993, Pilo Pichler, Salzburg
24.09.1993, Werner Schnelle , Salzburg
27.09.1993, Lydia Neudeck, Wien
03.10.1993, Suzanne Pastor, Prag
13.10.1993, Leo Kandl, Wien
15.10.1993, Robert Waldl, Wien
31.10.1993, Elisabeth Wörndl, Salzburg
05.11.1993, Hana Mahlerovä, Prag
08.11.1993, Bruno Klomfar, Wien
15.11.1993, Thomas Pressl, Wien
15.11.1993, Maria Ziegelböck , Wien
22.11.1993, Michael Michlmayr, Wien
01.12.1993, Tassilo Blittersdorf, Wien
17.12.1993, Peter Pölzl, Wien
21.12.1993, Beatrix Fiala, Wien
04.01.1994, Josef Wais, Wien
08.01.1994, Robert Koean, Bratislava
19.01.1994, Brigitte Silveri-Woda, Wien
19.01.1994, Carlies Leitzinger, Trautmanndorf/NÖ.
21.01.1994, Heiko Bressnik, Wien
21.01.1994, Linda Christanell, Wien
21.01.1994, Rastislav Pazdernaty, Bratislava
21.01.1994, Pavel Pecha , Bratislava
21.01.1994, Filip Vanco, Bratislava
25.01.1994, Thomas Reinagl, Wien
25.01.1994, Gue Schmidt, Wien
27.01.1994, Hermann Seidl, Salzburg
28.01.1994, Christine Elsinger, Wien
30.01.1994, Wolfgang Reichmann, Wien
01.02.1994, Liesl Ujvary, Wien
02.02.1994, Christian Wachter, Wien
03.02.1994, Anna Zeilinger, Wien
04.02.1994, H. H. Capor , Wien
04.02.1994, Alexandra von Hellberg, Wien
07.02.1994, Nikolaus Korab, Wien
10.02.1994, Brigitte Kordina, Wien
12.02.1994, Heimrad Bäcker, Linz