Basia Sokolowska. Unter der Oberfläche: Während der 9 Monate, die ich in Europa verbrachte, fotografierte ich Fenster durch Stoffschleier und Papier. Wie Schnappschüsse können sie als fragmentarische Chronik einer Reise betrachtet werden oder als Erzählung einer persönlichen Wandlung.
Die Bilder stehen als Metapher für den Prozeß des Zerfalls und der Reformation des „lchs“. Für mich erzählen sie von dem Zeitpunkt, an dem die Identität an ihren kritischen Moment gelangt, eine persönliche Wendemarke, in der offensichtlich wird, daß das alte „Ich“ sich in einem unwiederbringlichen Auflösungsprozeß befindet und das neue „Ich“ noch nicht ausgebildet ist. Ich lege die Betonung auf Zerfall, eher im Sinne eines Abbaus, der organisch und unvermeidlich und nicht intellektuell strukturiert ist.
Einmal verlorengegangen, läßt sich die Identität nur langsam wiederaufbauen. Es ist ein Prozeß, der sofort bekannt erscheint, aber zur gleichen Zeit beunruhigt. Es ist ein Prozeß, der das ganze Leben hindurch andauert und unserer Existenz eine Kontinuität verleiht: Identität ist niemals wirklich festzulegen, sie wird immer wieder durch Lebenserfahrung und unser Zusammentreffen mit Signifikantem umgeformt, bis offensichtlich wird, daß Identität ein Prozeß ist, nicht ein Ergebnis.
Diese Dualität von Zerfall und Reformation ist ein wichtiger Bestandteil meiner eigenen Existenz, der mein polnisches und amerikanisches Leben reflektiert und auch in meinen früheren Arbeiten enthalten ist (Interior / Mieszkanie, Carmen Infinitum). In der vorliegenden Serie wird der Kontrast zwischen dem „Innen“ und dem „Außen“ durch die physische Struktur der Installation verstärkt: dem „Innen“ und dem „Außen“. Das „Innen“ und das „Außen“ ist das Fenster, das zugleich ein Versprechen und eine Grenze darstellt. Die Bilder, wie auch die Fenster, sollen eher durchschaut als angeschaut werden. Die/Der BetrachterIn geht von allen Seiten auf das Bild zu und hat dadurch sowohl eine persönlichere, als auch schwer faßbare Begegnung.
Diese persönliche und intime Annäherung trägt die/den BetrachterIn über den ersten Blick (der vielleicht nur die strukturelle Abstraktion der ersten Schicht des Bildes registriert) hinaus in ein tieferes Verständnis der Installation. Der Prozeß der Begegnung ist ein Echo des Identitätswandels, den die Bilder repräsentieren.
Schleier zwischen der Linse und dem fotografierten Raum machen das Bild verschwommen. So wird die geheimnisvolle Wirkung erhöht und zugleich das „Außen“ verdunkelt. Auf das Versprechen hinter dem Rahmen wird nur hingewiesen, es wird nicht klar definiert. Nur der Fensterrahmen und das hereindringende Licht sind visuelle Gewißheit und drücken aus, wo die Grenzen der Aufnahmefähigkeit, des vollständigen unvermeidlichen Wandels, von Zerfall und Wiederaufbau, liegen.
(Basia Sokolowska, Oktober 1994)
Vladimir Zidlicky. Standpunkt: Die realen dargestellten Materialien und diejenigen, die durch die Wirkung der einzelnen Manipulationen des Künstlers zerstört wurden, werden innerhalb des Bildes nebeneinandergestellt. Dieses ist mit unspezifizierten anthropomorphen Formen bevölkert; Probleme, das Geschlecht zu bestimmen. Den Szenen fehlt ein erzählerisches Element, sie schaffen lebende Bilder, die unmittelbar einen gefrorenen Augenblick reflektieren. Die Betonung liegt auf der Stärke der visuellen Wahrnehmung. Die Bilder sind geographisch nicht identifizierbar, lediglich die formale Struktur deutet auf einen eruopäischen Zusammenhang hin. Leuchtende Spuren laufen durch die Oberflächen der Materialien und Volumen – besonders geeignete visuelle Rezeptoren. Sie sind von scharfen Spitzen eines Individuums zerkratzt und zerrissen und von einer Vielzahl von Spitzen grober Materialien. Auf der Oberfläche bleibt eine breite, charakteristische Spur. Menschliche Formen, die wie Kegel symmetrisch auf einer Achse angeordnet sind, kreisen in ihren Bahnen. Leichte Zusammenstöße von Paaren und Gruppen: einzelne Stadien einer dramatischen Handlungsabfolge. Figuren liegen einzeln oder paarweise verkeilt vom Epizentrum weggerichtet, und wir erleben sie während der Katharsis oder der Erwartung eines nächsten Schlages. Neben- und übereinandergehäuft bilden sie eine Zuschauermenge ständiger Premieren. Sie leiden nicht an Hunger und werden nicht von Verbraucherphobien verschlungen. Sie sind wie eine pulsierende Insel lebender Organismen, ohne individuelle Gesichter zu beanspruchen, durch die Urbindung erhöhter Temperatur verbunden, die ausgestrahlt wird und sich überdeckt in einem begrenzten und standhaltenden Gewebe, nur wenige Zentimeter von der Quelle entfernt. Bündel dieser menschlichen Gestalten finden sich unregelmäßig, doch häufig, in allen infizierten Gebieten. Sichtbare Schäden (Furchen und Kratzer, unkenntliche Gestalten, sinkendes Gebiet und fehlende Materie) sind Übertragungspunkte. Ich setze sie ein, um auf den appellativen Aspekt von Manipulationen hinzuweisen und gleichzeitig auf das gemeinsame Schicksal aller menschlichen Bündelungen. (Vladimir Zidlicky)