Eröffnung: Montag, 8. April, 19.00 Uhr
Einleitende Worte: Petra Noll
In dieser Ausstellung geht es auf der Basis von fotografischen und filmischen Selbstportraits und Portraits um die Auseinandersetzung mit Identität. Bei den künstlerischen Arbeiten handelt es sich sowohl um inszenierte Situationen, Modelle und Rollenspiele als auch um dokumentarische Positionen, die häufig in einem Werkkomplex miteinander verbunden werden. Im Fokus steht die Auseinandersetzung mit Individualität/Masse, Geschlechterrollen, zwischenmenschlichen Beziehungen sowie mit Sehnsüchten, Wünschen, Ängsten und den Auswirkungen gesellschaftlicher Regeln und Konventionen. Entstanden sind vielfach sehr intime Portraits, oft aber auch absurde, surreale Situationen, die eine Welt jenseits des Offensichtlichen eröffnen. Immer sind die Portraits auch eine Auseinandersetzung mit der bildlichen Darstellung an sich: Was zeigt ein (fotografisches) Bild von der Persönlichkeit eines Menschen, was ist Realität, was Fiktion?
Tommaso Bonaventura wurde 1969 in Rom geboren und lebt seit 2007 abwechselnd in China und Italien. Er zeigt Arbeiten aus dem Multimedia-Projekt Dreamwork China über chinesische FabrikarbeiterInnen. Für die dazugehörige Fotoserie Real Woman Photoshop hat er in einem Fotostudio mit gleichem Namen in Shenzhen/China gearbeitet. In diesem Studio gegenüber einer riesigen Elektronikfabrik posieren oft junge ArbeiterInnen für Portraitfotos als Geschenk für ihre Familien zu Hause oder zur eigenen Erinnerung. Bonaventura hat die dort vorhandenen Kulissen – idyllische Landschaftstapeten – für seine Fotografien von den ArbeiterInnen genutzt und diese mit Fotografien der Studiobesitzerin gemischt. Es geht um die Sehnsucht nach Idylle, um die kleinen Fluchten aus der Realität des Arbeitsalltags, um die Träume vom besseren Leben. Es sind sehr persönliche Statements, da hier – im Gegensatz zum Massenbetrieb in der Fabrik – die Einzelperson im Mittelpunkt steht. Im begleitenden Video Dreamwork China (von Facchin und Franceschini) erzählen junge ArbeiterInnen aus den Vororten von Shenzhen vor den Kulissen über ihre Wünsche, Hoffnungen und Kämpfe.
Petra Buchegger, 1970 in Graz geboren und in Wien lebend, präsentiert Fotografien und Videos aus einer komplexen Werkgruppe mit inszenierten und dokumentarischen Arbeiten, die sich mit soziologischen und symbolischen Bedeutungen des Kleidungsstücks „Kittelschürze“ – gestern wie heute eng mit der weiblichen Identität verbunden – auseinandersetzt. Für die Fotoserie Modeling I hat sie sich selbst in unterschiedlichen Schürzenkreationen wie ein Model vor weißem Hintergrund inszeniert, eine Situation zwischen Realität und Fiktion. Hier wie auch in dem Video ... no matter how deep the puddles werden Bedeutungszuschreibungen für die Schürze ironisch gebrochen. Wieder agiert die Künstlerin als Protagonistin, dieses Mal verrichtet sie in einem Business-Kostüm aus Schürzenstoff und Designerschuhen Landarbeit in einem bulgarischen Dorf – eine Szenerie, die mit Texten über den (urbanen) Business-Alltag einer Designerin unterlegt ist. Hier geht es auch um das wertfreie Aufzeigen der Parallelwelten Dorf und Stadt und um ein „Plädoyer“ für die Subsistenzwirtschaft als Überlebensstrategie. Buchegger ergänzt diese beiden Arbeiten durch das Dokumentarvideo Marife; es erzählt einen Tag im Leben der Schürzenverkäuferin und Selbstversorgerin Marife in Spanien.
Viola Fátyol wurde 1983 in Debrecen in Ungarn geboren und lebt in Budapest. In ihren Arbeiten geht es um die Untersuchung zwischenmenschlicher Beziehungen, die sie aus persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen reinszeniert. In der Fotoserie Orando et laborando – Praying and Working hat sie Jugendliche aus dem traditionellen Calvinistischen College in Debrecen, in dem sie selbst Schülerin war, portraitiert. Geleitet von ihrer subjektiven Vorstellung und Erinnerung, hat sie die Jugendlichen – aus unterschiedlichsten Kulturen und Ländern – in rätselhaften, surrealen Situationen inszeniert. Dadurch wird einerseits visualisiert, wie diese sich in einer sehr begrenzten Welt von Tradition und Glaube ihren Weg zur eigenen Identität in einer modernen Welt erkämpfen müssen. Andererseits sind es auch Portraits, die viel aussagen über die Beziehungen der Jugendlichen untereinander, die eine enge Gemeinschaft miteinander zu verbinden scheint. Ergänzt wird diese Arbeit durch Videos, die eine dokumentarisch-visuelle Sprache sprechen; Holy Communion zeigt, wie SchülerInnen in wechselnden Rollen und mit jugendlicher Unbefangenheit das Heilige Abendmahl nachspielen.
Claire Guerrier, 1969 in Straßburg geboren und in Basel lebend, präsentiert die 12-teilige Video-Arbeit Alice ou les petites évasions (Realitätsfluchten). Hier werden mit immer derselben Schauspielerin – sie hat vor einigen Jahren die fiktive Kunstfigur Alice, das Alter ego der Künstlerin, in die Welt gesetzt – verschiedene Episoden zu existentiellen Fragen und Themen wie „Körper“, „Schmerz“, „Macht“, „Erkenntnis“ usw. inszeniert. Guerrier nennt es „biografische Fiktion“. Die symbolgeladenen Geschichten sind unterlegt mit emotionalem Sound bzw. Musik, die die jeweilige Stimmung noch potenzieren. In dieser sehr persönlichen Arbeit lässt Guerrier Welten zwischen Realität und Phantasie entstehen, zwischen Poesie und Bedrohung, Angst und Hoffnung, Sehnsucht und Verlangen, immer auf der Suche nach der eigenen Identität und nach der Motivation zum Leben.
Viacheslav Kabanov, 1981 in Moskau geboren und dort lebend, zeigt die Schwarz-Weiß-Fotoserie Template. Hierbei handelt es sich um eine kritische Auseinandersetzung mit den Massenmedien, die die Menschen manipulieren, indem sie ihnen vorgefertigte Lebensmodelle, Identitäten, Schablonen anbieten. Durch das unreflektierte Übernehmen von Werten und Modellen in ihren Alltag haben viele Menschen die Fähigkeit verloren, eine eigene Identität aufzubauen. In der Serie Template hat Kabanov Menschen inszeniert, deren Identität er komplett durch massenmedial vorgeprägte Schablonen ersetzt hat. Daraus entstanden absurde, surreale, theatralische Inszenierungen von Gruppen und Einzelpersonen, die beweisen, dass das blinde Kopieren vorgedachter Lebensmodelle den Menschen zum Verlust von Individualität und Originalität führen kann.
Sabine Schwaighofer wurde 1969 bei Salzburg geboren und lebt in Wien. Sie verwebt mehrere biografisch-dokumentarische sowie inszenierte Fotoserien aus über 15 Jahren zu einer Bilder-Installation („dokumentarische Inszenierung“). Das Selbstportrait, die Erforschung des eigenen Ichs, soziale und kulturelle Identitäten sowie genderspezifische Fragestellungen sind das Hauptanliegen ihrer künstlerischen Arbeit. Sie sucht und findet Bilder von Landschaften, Stillleben, Gegenständen und Interieurs, die sie berühren und beschäftigen, fotografiert sich selbst und andere in oftmals intimen Stimmungen und Situationen (z .B. in the car, 2012). Auch die dezidiert mit „Selbstportrait“ titulierten Serien (wie self-portrait, n.y.c., 2001–2002) beinhalten nicht nur Darstellungen ihres Körpers, sondern immer auch Bilder von ausgewählten Dingen und Situationen. Diese „erweiterten Selbstportraits“ sagen viel aus über Träume, Wünsche und Fragestellungen der Protagonistin.
Petra Noll für die FOTOGALERIE WIEN