Annelise Jackbo. 1/60 Sek. aus dem Leben. Ein Moment, der nie wiederkehrt, wird festgehalten. Das Foto wird immer sein, der Moment ist eingefroren für die Ewigkeit. Einen Bruchteil einer Sekunde später ist jene Szene verloren. Die Kamera ist ein Spiegel mit Gedächtnis, aber ohne Reflexion.
Der Maler beginnt mit der Leinwand. Auf dieser weißen Fläche schafft der Künstler Leben, indem er Formen und Farben auf- trägt. Alle Entscheidungen haben ihre Konsequenzen, jede Komponente, die ins Bild gebracht wird, hat entscheidende Be-deutung für die gesamte Komposition. Eine Überladung nimmt dem Bild an Kraft – „weniger ist mehr“.
Die Welt der Fotografen ist dreidimensional, und anstatt etwas hinzuzufügen, muß der Fotograf die Zahl der Bildelemente re-duzieren, um Ordnung ins Chaos dieser Welt zu bringen. Dies muß im Bruchteil einer Sekunde passieren, weil eben ein Foto-graf exakt denselben Anforderungen der Bildkomposition ent-sprechen muß wie sie sich einem Maler stellen. Der Maler un-terliegt keinen zeitlichen Zwängen, Fotografen hingegen müssen exakt den richtigen Moment einfangen. Man könnte sagen, malen ist meditieren, hotografieren bedeutet reagieren.
Annelise Jackbo verbindet journalistischen Blick mit Komposi-tionskraft und dam Gefühl für den speziellen Moment. Sie ist nah am Subjekt und fängt die Situationen genau dann ein, wenn etwas passiert – Begegnungen zwischen Menschen oder spürbare Mißklänge, irgend etwas Absurdes oder Humorvolles. Mit ihrem professionellen Wissen und Kraft zieht sie uns mit sich hinein in verschiedenste Situationen, sie läßt uns Menschen treffen und skizziert diesen einmaligen Moment in deren Leben. Und die eingefrorenen Bewegungen werden sich fortsetzen in der Ewigkeit. (Morten Krogvold)
Die Leute flanieren durch die Straßen, bummeln oder eilen weiter zum nächsten Termin. Der Fluß der Passanten wird zum ausschlaggebenden Impuls der Arbeit von Irene Kar. Fast mit einem ironischen Blick auf jene Alltagsrituale heftet sie sich mit dem Kameraobjektiv auf unsere Fersen. Es ist der einzelne Mensch, den die Künstlerin in ihr Blickfeld rückt, wie er sich im Stadtraum bewegt, wie er ihn für sich einnimmt und wie er ihn für einen Augenblick mit seiner Präsenz bestimmt. Mit den ge-fundenen Details lotet sie für die Kürze der Belichtungszeit je-nes undefinierte Nahverhältnis der aneinander vorbeigehenden Menschen aus, entreißt sie dem anonymen Treiben und fixiert sie in der privaten Aura des Einzelbildes. Aus dieser Vielfalt von Eindrücken setzt sich für Irene Kar die unmittelbare Identität einer Stadt zusammen, die sie für sich gesehen faßbar machen möchte. Vor Ort recherchiert sie im urbanen Lebensraum die Nischen des Intimen und beginnt, diese Aufnahmen mittels kleinformatigen Bildträgern und Farbkopien auf Folie wieder an dem authentischen Schauplatz für den Passanten sichtbar zu machen. Die Fotografie versteht sich hier nicht als autonomes Bildmedium, sondern bindet sich konsequent in den Installati-onskontext ein, der nie losgelöst vom realen Außenraum gesehen werden kann. Irene Kar berührt die Grenzbereiche zwischen dokumentarischer Fotografie und der Überhöhung von Momentaufnahmen zu etwas Komponiertem, fast Inszeniertem.
Die nächstliegende Umgebung der FOTOGALERIE WIEN wird zum Szenario ihrer Bildmotive und gleichsam zum Ort ihrer Ausstellung. Schilder, Schaufenster, Fassaden und sonstiges Stadt-mobiliar beklebt sie mit jenen Folien, deren „Überlebensdauer“ vom Rhythmus der Stadt selbst bestimmt wird. (Abb. S 11) Die Folien funktionieren in gleicher Strategie wie jene populären Codes der Abziehbilder und Graffitis, die für ihren Fall im Grenzbereich der Illegalität zu schweigenden Platzhaltern ge-sellschaftlicher Konflikte werden. Ohne einen offiziellen Ort einzunehmen, verschwinden sie genauso unbeobachtet, wie sie auch auftreten. Minimal erscheint der Eingiff der Künstlerin im eigentlichen Ausstellungsraum. Sie lädt die/den BesucherIn ein, sich selbst als Flaneur auf die Suche nach den Bildern vor Ort zu begeben oder sich gar in den Kreislauf der Stadtraumbebilde-rung mittels der bereitgestellten Fotofolien einzubringen. Der Betrachter ist aufgefordert, seinen Blick weit über die Grenzen der reproduzierten Wirklichkeit hinaus zu richten, um diese mit der eigenen Erfahrung im Stadtraum vergleichen zu können.
Frühere Projekte verknüpften sich in ähnlicher Weise mit diesem Konzeptgedanken, die/den BetrachterIn mit ihrer Sammlung re-zipierter Stadtraumeindrücke in Beziehung zu setzen, um vor allem auch Orte nicht allein durch ihre Architektur, sondern an-hand ihrer Menschen identifizierbar zu machen. Für die Vitri-nengestaltung mit dem Titel „vorübergehend“ zur Ausstellung „museum passage“ 1997 in Salzburg fotografierte Kar über eine Woche hinweg Menschen, die diesen Ort passierten: in Abendrobe, auf Rollerblades oder mit Hund. Wieder auf Klebe-folie kopiert, bringt sie diese Bilder auf der Außenseite des Gla-ses an. Die Passanten begannen ihre fiktiven Stellvertreter ab-zulösen, um sie entweder mitzunehmen oder sie andernorts wie-der aufzukleben. Wie der Stadtraum unser Verhalten konditio-niert, spiegelt sich auch in der Arbeit zur Ausstellung suburbia (Abb. S 12/13 oben) wieder, ebenfalls in Salzburg 1997. Die Geste des „Grüß Gott!“ kündigt das Aufeinandertreffen zweier gestandener Männer über 13 Passagenfenster an. Nur auf einem Fenster, das sich auf halber Höhe der Passage befindet, kommen die beiden Männer freudig zum begrüßenden Handschlag zusammen. Kar bricht und thematisiert gleichzeitig mit diesem Bild die karge und ungastliche Durchgangssituation, in der sich niemand eingeladen fühlt, sich dort für einen kurzweiligen Plausch aufzuhalten.
Erstmals lenkte die Künstlerin 1994 ihr Interesse auf die Aus-einandersetzung mit dem öffentlichen Raum. Von Anfang an beschäftigte sie sich mit der Fragestellung, wie das Private im Außenraum erscheint. In den Auslagen eines Friseurladens prä-sentierte sie ihre Sicht auf die Gesichter und Frisuren der Kun-den. Die Bildsprache entnahm sie nicht den Klischees der gän-gigen Werbungen, sondern näherte sich mit der Kamera behut-sam dem Detail des Einzelnen, um ihm sprichwörtlich am Haar-ansatz jenen Hauch von Intimität abzugewinnen, der die unver-wechselbare Individualität eines jeden ausmacht. Im Zipfer Bierhaus, einer der österreichischen Küche verschriebenen Salzburger Gastwirtschaft, installierte sie auf dem Mobiliar wieder Ansichten von Menschen (Abb. S 12/13 unten), die eine vermeintlich typisch österreichische Lebensart darstellen sollen. Damit gab sie Anstoß, den Begriff der Heimat neu zu durchdenken.
Die Arbeit von Irene Kar erscheint wie ein Puzzle vielfältiger Eindrücke von Alltagsritualen, das erst in der Verbindung mit dem Ort zum Spiegel gesellschaftlicher Selbstverständlichkeiten wird. (Karin Pernegger)
„… in ihrem …Werk eine konzeptuelle Linie verfolgt: Irene Kar greift unspektakuläre, alltägliche Erscheinungsbilder auf, die sie in ihrer unmittelbaren Umgebung, dem Ort, an dem sie lebt, entnimmt. Diese zumeist fotografisch festgehaltenen Fragmente der Wirklichkeit werden von ihr situativ in einer räumlich architektonischen Zwischenzone angeordnet, in der die Grenzen vom Privatem zum Öffentlichen leicht verschoben werden.
In ihrer prozesshaften Einlassung auf das allgegenwärtig Durch-schnittliche, darunter z.B. die Frisuren von StraßenpassantInnen, oder auf einen Ausschnitt des touristischen Orts Salzburg, ge-lingt es der Künstlerin, den Blick auf scheinbar unbedeutende Phänomene und wenig beachtete Unterscheidungen zu lenken. Sie schärft damit in einem kritischen Sinn unsere Wahrnehmung auf die alltäglichen Dinge, an denen gesellschaftlich sehr wohl relevante Differenzierungen ablesbar werden.
Durch eine nur leichte Verschiebung des Blicks auf das „Normale“ läßt Kar an den Objekten sichtbar werden, wie sich Klischees, Zwänge oder Sehnsüchte einer Person, einer Gesell-schaft, einer Region an ihnen ablagern. (Silvia Eiblmayr, bezüglich des Förderungspreises des Landes Salzburg 1994)