Der Schwerpunkt 1996, Anderswo, umfasst vier Ausstellungen zum Thema Reisefotografie. Die verschiedenen Arbeiten bieten unterschiedliche Standpunkte subjektiver Auseinandersetzung mit der visuellen Begrifflichkeit des Reisens. Alle vier Ausstellungen haben thematische Schwerpunkte.
Im Rahmen der ersten Ausstellung, bei der es um die künstlerische Weiterverarbeitung von Reisesouvenirs geht, stellen Christian Schorr und Sylvia Wagner-Weger aus.
… sich um die Welt bereisen … :
Es gibt viele Arten von Reisen: Da sind die Reisen der unfreiwilligen Experten – Flüchtende und Vertriebene, Mitglieder der verschiedenen Diasporas, Migranten, die „in the grim prose of exile“ (H.K.Bhabha) erzählen. Da sind die Reisen derer, die sich im Zentrum der Welt glauben und ein Anderes suchen, das sich eben gerade auflöst im doppelten Aneignungsprozeß der Kapitalmaschine – unterschiedliche Dislokalisierung, globale Nomaden des Überdrußes oder der Entbehrung. Und dann die Reise als Suche nach dem Unbekannten, Wunderbaren, um einen neuen Raum in Besitz zu nehmen mit den Augen und dem Körper. Oder reisendes Sammeln von Information, Daten, Wissen und Objekten. Oder Reisen als Erfahrung fremder Welten und dem Fremden im eigenen Selbst, wechselseitige Bedingtheit der Reisebewegung, Bestandteil einer persönlichen Initiation. Und jeder möchte auch zurückkehren an den Ausgangspunkt seiner Bewegung, um überhaupt von ihr erzählen zu können. Erst dann ist die Reise zu Ende. Die durch die Bewegung geschaffene Differenz wird erst in der Mitteilung des Erlebten an die Nichtreisenden aufgehoben, Sinnhaftigkeit ergibt sich im Schließen des Kreises, der soziale Ort ist wiederhergestellt.
Christian Schorr bereiste Bangkok, Singapur, Hong Kong, Tokio, San Francisco und New York in 31 Tagen. Dabei entstanden die Art Maden-Mappen aus Fotografien vor Ort, in Verbindung mit gesammelten lokalen „Objets trouvés“ –verschiedene Materialien wie Fotos, Zeitungsausschnitte, Einwickelpapier, Eßstäbchen etc. Die Mappen wurden während der Reise Galerien überlassen, die ständig neu dazukommendes Material erhielten, so war Art Maden an mehreren Orten der Welt gleichzeitig und mit dem Reiseende fertiggestellt.
Die Art Maden-Mappen stellen einen Fundus dar und werden seit 1993 in Mixed-Media-Installationen weiterbearbeitet zu Bildern aus Fotos, Objekten und Tönen – zueinander versetzte exotische Elemente.
Schorr sieht das Reiseprojekt als Versuch, sich „nirgends, gleichzeitig und überall“ zu befinden, künstlerische Umsetzung und Interpretation der Dromologie Virilios. Eine mögliche Auseinandersetzung mit Zeit, Nähe und Distanz, Gegenstand und Abbild. Wobei es wichtig bleibt, daß sich der Körper des Künstlers selbst der beschleunigten Bewegung unterzieht, um zur Selbsterfahrung zu gelangen. Fremde Gesellschaften und Länder sind dabei Felder der Wahrnehmung, auf denen sich der Künstler bedienen kann, um „globales Selbsterfahren versus vermitteltem Medialen“ zu erleben.
Für Sylvia Wagner-Weger spielt die Geschwindigkeit keine thematische Rolle. Dieses Zitat setzt sie als Ausgangspunkt und Ankunftsort über ihre Arbeit: „Die Zukunft existiert nicht mehr – im Land das vor uns liegt, jenseits des Horizontes, schließt sich der Leerlauf des Reisens. Das Anderswo beginnt hier. Wir selbst werden unser Unbekanntes.“ (Paul Virilio)
Die Fotografien, entstanden auf einer Reise um die Welt 1993/94, sind Überbleibsel eines real existierenden Außen. Dieses ist fragmentiert, zur fotografischen Weiterverarbeitung in Segmente einer persönlichen Befindlichkeit von Bewegung und Stillstehen. Die Fotos beschreiben ein allgemeines Anderswo, mehr Zustand als geographischer Ort – „ein Anderswo in Unschärfe, das überall sein könnte, in Bewegung ist, nicht nach Identifizierbarkeit verlangt“. Sie sind auf Wände und Koffer projiziert. Die Koffer, Zeichen der Tätigkeit des Reisens, geben den projizierten Bildsegmenten räumliche Präsenz und transportieren Momente. Ihre Rauminstallation Anderswo I–IV holt Bilder aus persönlich Erinnertem in einen physischen Ort, der nun dem Betrachter als ein neuer subjektiver Reisezustand zugänglich ist.
Reisen ist eine situative Beziehung zwischen Eigenem und Fremdem, Ort und Bewegung, Geschwindigkeit und Wahrnehmung.
Schorr bearbeitet präzise materielle Versatzstücke der bereisten Länder, hält Fremdheit der Objekte aufrecht.
Wagner-Weger hebt Konturen und Identitäten der anderen Orte auf. Schorr und Wagner-Weger gemeinsam ist „die Reise um die Welt“, von der sie auf ganz unterschiedliche Art fotografische Erinnerungsstücke nach Hause“ mitbringen, nichts Beschreibendes – die visuellen Souvenirs der Reisen werden zur Erinnerung an Veränderung und Selbstbewegung.
(textliche Betreuung: Ulrike Davis-Sulikowski)