Der Schwerpunkt der FOTOGALERIE WIEN 1999 wurde mit dem Überbegriff Abstrakt beschrieben. Der Terminus „abstrakt“ sollte die formale Klammer zwischen jenen vier künstlerischen Positionen bilden, die in periodischen Abständen mit je einer Einzelausstellung den Raum der Galerie bespielten: beginnend mit Mina Mohandas, gefolgt von Kilian Breier und Inge Dick, abschließend mit Herwig Kempinger (…). Der Begriff „ abstrakt“ ist in diesem Ausstellungszyklus als rein formale Klammer zu verstehen (…). Mit Abstrakt ist keineswegs die Programmatik der Ausstellungsreihe beschrieben, um inhaltliche Paradigmen auf einen Punkt zu bringen. Vielmehr bearbeiten alle vier KünstlerInnen unterschiedliche Themenfelder, wenngleich durchaus Überkreuzungen in den Ideen und Ansätzen zu bemerken sind: Bei Inge Dick und Kilian Breier geht es um Abmessungen von Licht und Zeit, Mina Mohandas und Herwig Kempinger stellen mit ihrer Arbeit flüchtige und temporäre Volumina her.
Kilian Breier (geb. 1931 in Saarbrücken, gest. 2011) ist einer der wichtigsten, zeitgenössischen Vertreter der nicht-apparativen Fotografie in Deutschland. Seit seinen künstlerischen Anfängen in den 1950er-Jahren bis in die Gegenwart hinein beschäftigt er sich mit den Bedingungen und Möglichkeiten, die die kameralose Fotografie bereithält, wobei Breier – und dies erscheint mir entscheidend für das Verständnis seiner Arbeiten – weder einem strengen Konzept verpflichtet noch vom freien Experiment geleitet ist, sondern innerhalb dieser beiden Extreme eine Position des „Dazwischen“ einnimmt. Die generative Fotografie Breiers mit ihrem reduzierten Umgang fotografischer Gestaltungsmittel gründet sich zwar auf einer methodischen und systematischen Vorgehensweise – beispielsweise Reihentechnik als strukturierendem und rhythmisierenden Moment sowie einem rationalen Prinzip der visuellen Untersuchung – , bleibt aber gleichermaßen offen für „Fehler” oder Zufälle, die integrativer Bestandteil der Arbeit sind und auf die Reaktionen des Materials im Arbeitsprozeß zurückzuführen sind.
Breier ist ein Repräsentant für die Emanzipation der traditionellen Darstellungsmittel von der handwerklichen Individualität und Materialität herkömmlicher fotografischer Bildverfahren und für die Möglichkeit, Bildordnungen bewußter zu steuern. Auslöser für die Auseinandersetzung mit den grundlegenden medium- und materialspezifischen Eigenschaften der Fotografie war sicherlich die Erkenntnis, daß die kameralose Arbeit das Herstellen direkter Wirklichkeit im Bild ermöglicht, wohingegen die motivabhängige Kameraarbeit immer das Abbilden von Wirklichkeit bedeutet – eine Problematik, die die Fotografie seit ihren Anfängen begleitet.
Breiers komplexes künstlerisches Werk ist geleitet von den Fragen „Was ist das Medium?”, „Was ist Zeit?” und „Was ist Chemie?” (Thilo Koenig) und läßt sich nach Meinrad Maria Grewenig in fünf Perioden fassen: In den 1950er-Jahren entstehen Fotogramme und Chemiegrafiken. Bereits in den frühen Fotogrammen deutet sich ein Strukturwille des Künstlers an, der sich später in den Rasterbildern mit mathematisch-regelmäßig gegliederten Strukturen verfeinert – gleichsam manifestiert – und der Breier in den sechziger Jahren in das Umfeld der Düsseldorfer ZERO-Gruppe führt. Die ZERO-Gruppe strebte eine Objektivierung der Bildmittel und die direkte Arbeit mit dem (immateriellen) Licht als Bestandteil der Gestaltung im Bild an, ein Ansatz, der Breier sehr nahe war und ist, wenngleich Breier mit seiner Kunst das Prozeßhafte der Kunst zu betonen versuchte und neben dem Faktor Licht immer den Faktor Zeit als dynamisches Mittel stark machte – ein Um-stand, der ihn wiederum in die Nähe der kinetischen Kunst bringt. Deshalb ist es nur folgerichtig, daß Breier auch an den Chemigrafiken in den 1960er-Jahren weiterarbeitet, denn vor allen Dingen hier zeigte sich das Bild nicht länger als ein stati-sches, abgeschlossenes Werk. An die chemische Oberflächen-behandlung des Fotopapiers mit Fixierlösung, die aufgrund des steten Oxidationsprozesses, dem das Bild bei Lichteinwirkung ausgesetzt ist, nur bedingt kontrollierbare Effekte nach sich zieht, schließen sich Versuche von Sondierungen des Lichts an – es entstehen Luminogramme, die für die systematische Erfor-schung von Lichteinwirkungen in der Fotografie stehen.
Seine Berufung als Professor für Fotografie an die Hochschule der bildenden Künste in Hamburg 1966 führt Breier in den 1970er-Jahren in ein breites Feld der Medien- und Kommunikationsarbeit, die ihn jedoch nicht davon abhält, seine eigene fotografische Praxis weiter zu verfolgen. Die Chemiegrafiken bleiben bis in die 1980er- und 1990er-Jahre hinein zentral in der entwicklerfreien Arbeit Breiers. Nach wie vor interessieren ihn die Zersetzungs- und Veränderungsprozesse des Fotopapiers als Ausdruck und Dokument von Zeit. Erfahrungszeit und Erinnerungsarbeit sind die Stichworte, die diese Arbeiten begleiten. Sie eröffnen für den Betrachter einen Wahrnehmungsraum, der neben der vordergründig abstrakten Bildkomposition reale und optisch sinnliche Erfahrungen im Wahrnehmen der Metamorphosen, die die Bildoberflächen Breiers durchleben, bereit hält.
1) Vgl. Meinrad Maria Grewenig, Kilian Breier – Fotografik 1952–1990. Bild als Potential des Materials, in: Kilian Breier – Fotografik 1953–1990, Katalog des Saarland Museums Saarbrücken und des Museums für Kunst und Gewerbe in Hamburg, 1991, S. 31.
(textliche Betreuung: Maren Lübbke)