Robert Jelinek
KEIN TEXT VORHANDEN
Der Archivar endet im Wahnsinn
Der mediale Overkill – Paul Albert Leitner leert seine Schachtel mit Zeitungsausschnitten und präsentiert uns einen kleinen Bruchteil dieser Zeugnisse einer sich steigernden Sammelleidenschaft in der FOTOGALERIE WIEN. In einer Linie werden sie mit jeweils vier Nägeln nebeneinander befestigt. Der Planet Erde vom Weltall aus gesehen, Jassir Arafat, Christus aus Michelangelos Jüngstem Gericht in der Sixtina, ein Mädchen im Badeanzug, die Queen bei der Krönung ihres Sohnes zum Prinzen von Wales. Es zieht sich ein Band durch die Galerie, an dem entlangschreitend wir Leitners obsessivem Gebrauch der Druckmedien folgen können.
Der hier vor uns ausgebreitete, aber auch sonst das Leben des Künstlers ständig begleitende Zwang, Zeitungen oder Zeitschriften nicht nur intensiv zu studieren, sondern auch Teile daraus auszuschneiden, zu horten, immer wieder hervorzuholen, sucht seine Rechtfertigung in sich selbst, in intensiver Selbstbeobachtung, aber auch in ebenfalls aus Zeitungen, Fernseh- und Radiosendungen aufgelesenen Tatsachen, die Paul Albert Leitner faszinieren: Etwa jene Buchrezension in der Süddeutschen Zeitung, in der mitgeteilt wurde, daß ein Durchschnittsdeutscher heutzutage achtzehn Jahre seiner Lebenszeit mit der Rezeption von Massenmedien verbringe. Oder jener Meldung im GEO, daß die Deutsche Bibliothek in Frankfurt jährlich um 8 km Regal wachse, mit dem Ergebnis, daß im Jahr 2000 das dort gehortete Wissen 240 km aneinandergereihte Bücher einnehmen werde … Für soviel angesammeltes Gedächtnis reichen nicht nur keine wie auch immer vorstellbaren Lebensjahre.
Paul Albert Leitner weist uns nun seinen persönlichen Pfad durch die Wüste der Bilder, die im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit täglich wächst, bis sie das Grün der spontanen Beobachtung völlig überwuchert hat. Doch diese Wüste erlebt Leitner nicht als dürr und unfruchtbar – als Künstler, der selbst Bilderwelten kreiert, ist er offen für den Reiz dieser Zeitungsillustrationen. Nicht als Ersatz für Wirklichkeit erlebt er sie, sondern als Auslöser optischer Erregung. Er ist sich des trügerischen Tatbestandes medialer Vermittlung bewußt – und läßt sich doch verführen. Und bedauert, daß das, was ihm auffällt, schon nach 24 Stunden nicht mehr aktuell und daher vergessen sein wird: Dagegen stemmt er sich mit seiner Schere, dagegen füllt er seine Schachtel. Natürlich hat er seine Lieblingsmotive: Bilder aus dem Weltall, Katastrophen, exotische Welten … und Kunstreproduktionen, immer wieder Kunst. Dennoch ist der überbordende Inhalt der Schachtel für ihn ein Symbol für die ganze Fülle der Welt, die gefaßt werden könnte durch die Addition aller Momente und Motive, die seit der Erfindung der Fotografie jemals festgehalten wurden. Und diese Fülle breitet sich nun aus in diesen Räumen einer Galerie, ein Bild neben dem anderen. Die Reihe ist unendlich fortsetzbar, hätte nur einen theoretischen Anfangspunkt: Die erste publizierte Fotografie. Leitner träumt vom unendlichen Raum, in dem er diese Linie ohne Ende fortsetzen könnte …
Denn wo soll er denn aufhören? Wo könnte er innehalten in diesem Fluß, der ihm bei jedem Mal Zeitungsöffnen entgegenstürzt? Der ihn oft daran hindert, auch die Texte genau zu studieren, die er uns deshalb nur in angeschnittener Form mit den Bildern mitliefert? Schon vor dem Aufschlagen der Zeitung ist ihm klar, daß er dem Zwang nach einer Aneignung von Bildern wieder nicht widerstehen wird können, seine Schachtel, sein Archiv wieder wird vergrößern müssen. Overkill. (Monika Faber)