Jerald Frampton: Die künstlerische Darstellung der Realität hat Menschen schon immer fasziniert: Malerei, Skulptur, Wachsfiguren, Spielzeug, Bühnenbilder, usw. Mir geht es ebenso. Ich mache Bilder, indem ich Miniaturdioramas fotografiere. Ich baue diese Dioramas aus Holz, Gips, Ton, ausgeschnittenen Fototeilen und anderen Materialien. Danach fotografiere ich sie und mache Farbabzüge davon.
Indem ich Bilder konstruiere, habe ich die Möglichkeit, jedes Detail einer künstlichen Welt zu erfinden. Durch die Fotografie erscheinen die Miniaturen, als ob sie lebensgroß wären. Die entstandenen Bilder haben eine visuelle Qualität, die künstlich ist, aber Aussage und Bedeutung der Realität in sich trägt. Ich arbeite auf diese Art seit mehreren Jahren. Damit habe ich die Freiheit, freie Assoziation und bildhafte Kontrolle zu kombinieren.
Manchmal verwende ich „Unschärfe“, die sowohl als Metapher für „Wirklichkeit“ als auch für „Chaos“ und „Verwirrung“ steht. Frühere FotografInnen verwendeten die Unschärfe, um den Unterschied zwischen Malerei und Fotografie zu überbrücken.
Ich interessiere mich sehr für die Fotografen des 19. Jahrhunderts, wie z. B. Oscar Gustave Rejlander, Henry Peach Robinson und Fred Holland Day sowie für die frühen Pictoralisten, wie Julia Margaret Cameron und Alfred Stieglitz. Ihr Impuls, die Konventionen der klassischen Kunst nachzuahmen und sich auf historische und literarische Bildsprache zu beziehen, wurde als naiv und verschroben verspottet, ich aber finde, daß ihre Arbeit wahre fotografische Impulse erforschte. Sie durchbrachen die fotografischen Vorstellungen mit absolut konstruierten und durchdachten Kompositionen und Details und implizierten Wahrheit, während sie Fiktion schufen. Ich glaube, daß ihre Arbeit eine Grundlage für weite Bereiche der zeitgenössischen Filmkunst und Werbegestaltung geschaffen hat.
Ich versuche Bilder zu gestalten, die sensationell, emotionell und humorvoll sind. Meine Inspiration entnehme ich verschiedenen Genres repräsentativer Bildwelten: Film, Religion, Familienschnappschüsse, Geschichte, Mythen und populären Ge-chichten von Liebe und Heldentum. Ich versuche intuitiv zu arbeiten, damit meine Bilder nicht zu „nahe“, zu „eng“ und zu „konkret“ werden. Manchmal wurden die Bilder durch meine Kindheit in den USA inspiriert. (Jerald Frampton)
Michelle Luke. Shelling Peas. Während meines ersten Jahres an der Universität meinte mein Professor für kreatives Schreiben: „Ich glaube, Sie werden sich sehr für Rilke interessieren“.
In der Zitatensammlung aus meinem Tagebuch lautet eine der ersten Eintragungen: „Um nur einen einzigen Vers zu schreiben, muß man viele Städte, Menschen und Dinge sehen; man muß die Tiere kennenlernen und den Flug der Vögel und die Bewegungen der kleinen Blüten beim morgendlichen Öffnen beobachten.“
Rilke „Das Tagebuch des Maltes Brigge’
Ich danke dir, Wien, für die Einladung, die Schneeflocken auf die Stadt fallen sehen zu dürfen.
In dieser Ausstellung ist Shelling Peas in zwei Versionen zu sehen. In beiden fotografischen Erzählungen ist die Vergangenheit in die Gegenwart eingebettet. Eine Frau arbeitet, sie schält Erbsen. Aufgrund der Form der Erbsenhülsen erinnert sie sich an ein Erlebnis mit einem Mann in einem Boot. Das gegenwärtige Bild ruft ein vergangenes herbei oder einen Fluß von Bildern. Dies erlaubt ihr, in diese andere Zeit hinein- und wieder aufzutauchen, in die Berührung dieses Mannes. Die in ihrer Erinnerung eingegrabenen Bilder tragen sie fort. Aus Erbsen werden Perlen, und wenn sie einer Erbsenhülle zuhört, nimmt sie das Plätschern des Wassers an der Wand des Bootes wahr. Die Zeit folgt nicht ihrem üblichen Ablauf, sie ist mehr als eine Serie von Rückblenden, unzusammenhängend, aber von einer sich über alles erstreckender Dauer.
Die Abstände zwischen den Bildern sind für mich ebenso wichtig wie die Fotos selbst. Das ermöglicht den BetrachterInnen, ihre eigenen Fantasien einzubringen. Die Bewegung zwischen meinen Bildern findet in seinem Kopf statt. Wenn ich mit einer/einem BetrachterIn in Verbindung trete, kommt es zu einer Auseinandersetzung zwischen meinen Fotos und seinen Erinnerungen und Gefühlen. Es besteht dann ein Gleichklang zwischen ihm und mir. Die zweite Version wird angeboten, damit der Betrachter die Gedanken und Gefühle, die in der ersten Version geweckt wurden, vergleichen und widerlegen kann. Es gibt keine genaue vorgegebene Leseart für diese Sequenzen. Ihr Ende bleibt offen – Hinweis auf ein Geheimnis. Viele Andeutungen kommen vor; weiterführende Überlegungen werden offengelegt oder man kann sich auch einfach von der formalen Schönheit verführen lassen. Die sinnlichen und abstrakten Formen der Komposition liegen mir besonders am Herzen, sie sind jedoch den narrativen Elementen gleichwertig.
In Paris wurde Shelling Peas einmal als „La Petite Madeleine de Proust“ bezeichnet.
„Verbringen Sie einige Zeit bei den Sequenzen. Tauchen Sie Ihre Hand in meinen Teich und treiben Sie langsam ab.“
„Somit schuldet uns jeder Dichter seine „Einladung zu einer Reise“. Mit dieser Einladung nehmen wir, in unserem inneren Wesen einen leichten Impuls wahr, der uns bewegt, der eine wohltuende Träumerei, eine wirklich dynamische Träumerei in Gang setzt. Wenn das erste Bild gut gewählt ist, gibt es einen Impuls für einen gut definierten Traum, für ein imaginäres Leben, das Gesetze der Bildabfolge festlegt und von grundlegender Bedeutung ist. Die Bildabfolge, die durch die „Einladung zu einer Reise“ arrangiert wird, nimmt durch ihre richtige Anordnung eine besondere Lebendigkeit an, die es ermöglicht, sie mit einer „Bewegung der Vorstellungskraft“ zu bezeichnen. Diese Bewegung ist nicht nur eine Metapher; wir werden sie tatsächlich in unserem Inneren fühlen – für gewöhnlich wie eine Erhellung, in der sich die Bilder mühelos aneinanderreihen und wir uns wünschen, den bezaubernden Traum weiter zu träumen. Ein schönes Gedicht ist wie Opium oder Alkohol, es ist Nahrung für die Nerven.“
(Gaston Bachelard, „Über poetische Vorstellung und Träumerei“)
(Michelle Luke)