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Ausstellungen

RITUALE IV

KÖRPER

1. September 2020 – 3. Oktober 2020

Malin Bülow (NL), Stine Deja (DK), Tobias Izsó (AT), Eva Koťátková (CZ), Mafalda Rakoš (AT), Raphael Reichl (AT), Roland Reiter (AT), Albert Sackl (AT), Anna Witt (DE)

BILDER | Cinemathek | Kataloge | Schwerpunkt: RITUALE 2019 / 2020

Eröffnung: Montag, 31. August 2020, 19.00 Uhr
Einleitende Worte: Petra Noll-Hammerstiel
Eröffnungsperformance: Malin Bülow, Elastic Still Lives, performt von Chiara Bartl-Salvi und Pia Wu
Finissage und Katalogpräsentation Schwerpunkt „Rituale“ 2019/2020:
Donnerstag, 1. Oktober , 19.00 Uhr
Artist talks auf unserer Online-Cinemathek

sponsored by: BMKÖS; MA7-Kultur; Cyberlab
Dank an: Galerie hunt kastner, Prag, und Galerie Tanja Wagner, Berlin

Rituale sind ein wichtiger Bestandteil des Ausdrucks- und Kommunikationsverhaltens des Menschen und sagen viel aus über Werte, Rollenverständnis und das soziale Miteinander, in dem sie häufig eine regulierende, unterstützende Funktion einnehmen. Die komplexe Inhaltlichkeit und große Bedeutung des Rituals für den Menschen hat das kuratorische Team der FOTOGALERIE WIEN dazu inspiriert, einen Schwerpunkt mit vier Ausstellungen mit internationalen Künstler:innen in den Jahren 2019/2020 zu konzipieren. Der Begriff „Ritual“, ursprünglich nur im liturgisch-zeremoniellen Kontext üblich, wird heute für alle gesellschaftlichen Bereiche verwendet.

Das Ritual ist eine nach vorgegebenen Regeln und meist in festgelegter Reihenfolge durchgeführte Handlung mit primär identitäts- und sinnstiftendem Ziel, d.h. mit dem Wunsch nach Orientierung, Erkenntnis und gemeinschaftlichem Handeln. Es setzt sich ab von alltäglichen Gewohnheiten bzw. instrumentellen, regelmäßigen und vor allem zweckorientierten Tätigkeiten, denen aber ein „ritueller Charakter“ zugeschrieben werden kann. Das Ritual besetzt somit vor allem den geistigen und emotionalen Raum. Charakteristisch sind zudem Inszenierung, Prozessualität und meist hohe Symbolhaftigkeit.

Die vier Ausstellungen beschäftigen sich mit gesellschaftlichen Ritualen und den damit einhergehenden Beziehungsgeflechten; mit Ritualen, in denen sich Machtdemonstration, Unterdrückung und Ausgrenzung artikulieren, sowie mit religiösen und anderen zeremoniellen Ritualen. Im Zuge dessen werden die mit den verschiedenen Ritualen verbundenen Codes, Haltungen und Kommunikationsformen untersucht. 

Eines der formalen Grundelemente des Rituals ist seine Performativität. Die Künstler:innen der vierten Ausstellung zeigen Arbeiten, in denen der Körper in rituellen Handlungen formal und inhaltlich eine explizite Rolle einnimmt. Dazu gehört das Thema Selbstoptimierung in den Bereichen Fitness, Gesundheit, Schönheit, Sexualität, Glück und Leistung. Die hier durchgeführten Rituale basieren oft auf moralisierenden, manipulierenden Vorgaben der Gesellschaft sowie auf Lifestyle-Trends aus dem Internet und können zu Zwangshandlungen des Individuums führen. Thematisiert wird auch, wie sich künstliche Intelligenz und Automatisierung auf die (körperliche) Arbeit des Menschen auswirken und wie durch Virtualität neue Körperdefinitionen entstehen. Andere Künstler:innen untersuchen, wie familiäre, hierarchische Strukturen die Positionen der einzelnen Mitglieder bestimmen oder wie pädagogische Regeln und Konventionen Menschen in eine Gratwanderung zwischen Unterwerfung und Aufbegehren bringen.
Die Künstlerin und Choreografin Malin Bülow zeigt die Performance Elastic Still Lives, die im Verlauf der Ausstellung als Video präsentiert wird – eine Metapher für das Körperhafte und Prozessuale des Rituals. In ihren Performances und performativen Installationen verwendet Bülow elastische Stoffe als Handlungselement, wie auch in Elastic Still Lives mit zwei Darstellerinnen, sogenannten „Aktivatoren“. Diese sind bekleidet mit Neoprenanzügen, die die beiden Körper wie ein Kokon umgeben und fast bis zum Ende komplett verbergen. Ein langer Neoprenschlauch fusioniert die Körper. Langsame, organisch fließende, scheinbar endlos dauernde, sehr ästhetische Bewegungen prägen dieses skulpturale „elastische Stillleben“. Es werden Grenzen von Körper sowie die Beziehung zwischen diesen verhandelt: Im Bemühen das Gleichgewicht zu halten, stützen sich die Darstellerinnen auf den jeweils anderen Körper.
Stine Dejas Kurzvideo The Perfect Human basiert auf dem gleichnamigen Kurzfilm des dänischen Filmemachers Jørgen Leth (1967), in dem dieser seine Gedanken darüber, was es denn bedeutet, ein Mensch – oder vielmehr ein perfekter Mensch – zu sein, in der Ästhetik der 1960er-Jahre in Schwarz-Weiß visualisiert hat. Ein Mann und eine Frau führen Tätigkeiten aus. Eine Off-Stimme stellt sie uns als perfekte Menschen vor, erklärt ihre Körpermerkmale und ihr Tun. Deja hat den Film „neu geschrieben“ und digitalisiert. Ein silberner, nackter Avatar bewegt sich im grenzenlosen virtuellen Raum. Auch hier erklärt eine männliche Off-Stimme, wie der „perfekte Mensch“ funktioniert, wie er aussieht, wie er sich anfühlt, was er gerade tut, fragt danach, was er denkt. Ist dieser technologische Körper perfekter als der menschliche? Deja fragt nach dem Verhältnis von Mensch und Maschine in einer digitalen Zukunft.
In der Rauminstallation Der hölzerne Versuch einer Familienaufstellung von Tobias Izsó stehen Holzskulpturen, Fotoobjekte und Fotografien jeweils für ein Familienmitglied. Die Arbeit bezieht sich auf das gleichnamige Problemlösungsverfahren in der Psychotherapie, wo während wechselnder Positionierungen und Befragungen Beziehungsmuster (räumlich) sichtbar gemacht werden. Die im Raum verteilten Arbeiten von Izsó stehen für Personen – das Ich, Vater, Mutter, Oma, Geschwister – und zeigen deren Beziehungen zueinander. Ihnen sind „typische“ Gendermerkmale sowie individuelle Eigenschaften – so empfunden vom „Ich“ –, zugeordnet. Diese artikulieren sich in dem jeweils zugeschriebenen Möbel und dessen Materialität, in der Sitzordnung und den Haltungen der Personen. Sie verweisen auf zugrundeliegende Alltagshandlungen mit rituellem, Struktur gebendem Charakter.
Zentrales Thema in den meist bühnenhaft inszenierten Arbeiten von Eva Koťátková sind Machtstrukturen hinter (pädagogischen) Normierungs-, Manipulations- und Kontrollmechanismen, Konventionen und Ritualen, die unreflektiert zu reglementiertem Denken, Zwängen und Einschränkungen des Körpers führen können – im biologischen, sozialen und politischen Sinn. In dem 46-minütigen, in Episoden gegliederten, surrealen Film Stomach of the World sind Kinder die Protagonisten. Sie führen nach zum Teil bedrohlichen Anweisungen aus dem Off befremdliche „Exercises“ durch. Die Welt wird von Koťátková symbolisch als Körper bzw. Verdauungssystem verstanden, als alles verschlingender Magen – ein chaotischer Organismus zwischen Anpassung, Stillstand, Kontrolle, Angst sowie Empathie oder Aufeinanderprallen der Bewohner:innen.
Mafalda Rakoš zeigt Fotos aus der Serie A Story to Tell, or: Regarding Male Eating Disorders, für die sie und der Journalist Ruben de Theije mit an verschiedenen Essstörungen leidenden Männern zusammengearbeitet haben. Dazu werden Zeichnungen der Betroffenen, die deren Gefühle und Erfahrungen widerspiegeln, auf die Ausstellungswand übertragen. Essstörungen sind vor allem in den westlichen Industrieländern weit verbreitet, besonders bei Frauen. Männer sind hier in der Minderzahl und werden deshalb weniger wahrgenommen. In therapieähnlichen Treffen mit Rakoš und Theije erzählten sie von ihren Gefühlen und Ängsten, vom Druck sozialer Erwartungen und von Ausgrenzung. Aus diesen Gesprächen, begleitet von Selbstoptimierungsritualen, entstanden intime Porträts der Protagonisten und Texte. Zu der Serie erscheint ein Buch in der Fotohof edition, Salzburg.
Raphael Reichls konzeptueller tonloser 16mm-Kurzfilm t t t touch me (aus einem Super 8-Film) beschäftigt sich mit Kommunikationsritualen der digitalen Gesellschaft, mit neuen Gesten und Körperhaltungen, die im Gegensatz zu den meist unterbewusst ausgeführten Bewegungen beim Live-Gespräch gezielt und vom Verstand gesteuert eingesetzt werden. Die charakteristischen Fingerbewegungen beschränken sich auf Tippen, Drücken, Streichen, Wischen; das Gegenüber ist der Touchscreen eines Smartphones. Diese Standardgesten führen zu einem veränderten Kommunikationsverhalten. In seinem Film versetzt Reichl die Handbewegungen einer digitalen Unterhaltung vom Touchscreen auf die sensible Oberfläche eines nackten männlichen Körpers, ein Verweis auf die Gefahr des Verlusts der sinnlichen Berührung durch die digitale Kommunikation.
Roland Reiters großformatige Fotoserie Transformed Identity zeigt inszenierte Ganzkörperporträts von Männern und Frauen, deren Gesichter mit transluzentem Silikon bedeckt sind. Durch die „Maskierung“ und Verfremdung des Subjekts werden Fragen der Identität und Transformation eröffnet. Realitätsverschiebungen verhandelt Reiter auch in seinen bildhauerischen Arbeiten, die, ebenso wie diese Fotos, häufig grotesken, absurden Charakter annehmen. Mit dem Zitat der Maske spricht er auch deren Verwendung in kultisch-rituellen Handlungen an, verbunden mit hoher sozialer, kultureller und religiöser Bedeutung. Die Maske wird verwendet zu Zwecken der Verehrung, des Schutzes, der Abwehr und der Verwandlung in etwas Anderes. Sie macht, wie auch bei Reiter, immer neugierig auf einen Blick dahinter.
Albert Sackl unterwirft sich alle zehn Jahre einem selbst aufoktroyierten Zwangsritual, das die gängigen gesellschaftlichen Erwartungen von Männlichkeit bzw. Potenz auf humorvolle wie auch ernste Weise untergräbt. Hierfür stellt er frontal und schonungslos seinen nackten Körper und eine rituelle Tätigkeit zur Schau – er versucht über vier Stunden lang die Erektion seines Penis zu erhalten. Aus diesem Konzept ist ein bisher dreiteiliges Filmwerk ohne Ton entstanden, steifheit 1–3 / 7, wobei die 7 auf vier weitere Male verweist. Animiert durch Pornohefte und später auch durch das Smartphone kämpft er einen absurden Kampf vor einer Kamera. Während zunächst das Spielerische, Slapstickhafte seiner Schau dominiert, kommen später – auch aufgrund des zunehmenden Alters – immer mehr Aspekte der Qual, Verlorenheit und Verunsicherung zum Vorschein.
In Anna Witts Dreikanal-Videoinstallation Unboxing the Future werden die Auswirkungen wirtschaftlich gelenkter Automatisierung auf die Arbeit des Menschen, dessen Selbstbestimmung und die Gemeinschaft untersucht. Gedreht wurde in der japanischen Stadt Toyota in der gleichnamigen Autofirma, wo die Hälfte der Arbeiter:innen Roboter sind. Im Film werden parallel zur Roboterarbeit von den (Fließband-)Arbeiter:innen – in Zusammenarbeit mit der Künstlerin – Bewegungen ihres täglichen, rituellen Arbeitsprozesses ausgeführt. Es gibt zusätzlich verschiedene performative Einlagen, u.a. eine Aktion, während der sich ArbeiterInnen als Akt der Befreiung von maschineller Dominanz gegenseitig die Uniformen vom Körper schneiden. Kombiniert sind sie mit persönlichen Statements von Arbeiter:innen und Angestellten, philosophischen Gedanken und einer kritischen Analyse von Arbeitssystemen.
(textliche Betreuung: Petra Noll-Hammerstiel)